»Okay«, sagte sie und zerschnitt den Moment mit ihrer lauten Stimme. Linus zog die Hand zurück und erhob sich gemeinsam mit ihr. »Ich danke dir, dass du so offen warst und mir so viel erzählt hast. Ich denke, dass du das Abi schaffen kannst, aber dir auch irgendwie klar machen musst … Dass es ein weiter Weg für dich ist. Ich meine, dass du in den Fächern, die dir Probleme bereiten … Also in Mathe und Physik irgendwie die Kurve schaffst.« Sie eierte furchtbar herum, anstatt klare Ansagen zu machen. Seine Augen lagen trotzdem konzentriert auf ihrem Gesicht und bewegten sich erst von dort weg, als sie ihre Tasche ergriff und mit ihm Richtung Schulhaus ging.
»Verzeihen Sie mir?«, wechselte Linus unerwartet das Thema und sorgte dafür, dass Rebecca kurz vor dem Eintritt ins Gebäude innehielt.
»Was?«
Linus forcierte einen Augenkontakt, der viel zu intensiv war.
»Dass ich in der Disco mit Ihnen geflirtet habe.«
Er wusste es also doch noch. »Ich dachte, du wärst zu betrunken gewesen, um dich daran zu erinnern.«
»Cedric war sehr spendabel an diesem Abend. Er hat alle aus der Stufe, die in die Disco kommen wollten, eingeladen. Er hat den Eintritt bezahlt, die Getränke. Einfach alles.« Woher hatte er so viel Geld? Bevor sie nachfragen konnte, redete Linus weiter. »Es hat mich gefreut, dass ich mal rauskam und Cedric ausgegeben hat. Da hatte ich vielleicht das ein oder andere Bierchen zu viel intus.«
»Und dann hast du mich gesehen und gedacht …« Sieht gut aus, kann ich mal probieren. Rebecca verkniff sich, ins Detail zu gehen. Sie ahnte, dass er mehr für sie fühlte.
»Alle Mädchen hatten nur Augen für Cedric an diesem Abend«, sagte er. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Sie auch.« Dass er sich traute, mit ihr über solche pikanten Dinge zu sprechen. Rebecca wusste nicht, wie sie dem Gespräch etwas Unverfängliches abgewinnen konnte, ohne sich zu verstricken. Ohne ihm Antworten zu liefern, die sich nicht geziemten.
Sie schwieg daher einfach. Und siegte, denn Linus setzte die Unterhaltung fort: »Also, was ist? Verzeihen Sie mir?«
»Schwamm drüber. Ich muss jetzt in den Unterricht.«
Er nickte, hielt ihr die Tür zum Schulgebäude auf und verschwand in die entgegengesetzte Richtung. Nicht ohne Rebecca vorher ein doppeldeutiges Lächeln zum Grübeln mitzugeben.
»Ich hatte euch ja schon gesagt, dass wir uns einige Gedichte aus der Zeit des Sturm und Drang ansehen, bevor wir nach der Kursfahrt mit den ›Räubern‹ von Friedrich Schiller einsteigen. Ich habe ein Arbeitsblatt vorbereitet, auf dem vier Gedichte enthalten sind«, sagte Rebecca und zeigte den vorbereiteten Blätterstapel in die Höhe.
»Ihr werdet gleich zu dritt zusammenarbeiten und sollt jeweils ein Gedicht davon untersuchen.« Damit übergab sie Victoria den Schwung an Blättern, die sofort aufstand und mit dem Verteilen begann.
Das Los entschied. Linus wurde Sarah und Julia zugeteilt. Cedric sollte mit Emely und Helena zusammenarbeiten. Als die Zuordnung vorgelesen wurde, strahlte Emely wie ein Honigkuchenpferd. Sie war so was von verknallt in Cedric, dass sie errötete, als sie sich an einen gemeinsamen Tisch setzten und ihr männlicher Mitschüler ihr direkt gegenübersaß. Scheue Blicke wurden gewechselt. Emely konnte dem Augenkontakt mit ihm überhaupt nicht standhalten. Sie schaute immer wieder auf das Papier, das sich unter ihren klammen Fingern verbog. »Er ist so süß«, waren ihre Worte, als sie vor Kurzem mit Rebecca das Gespräch geführt hatte. Cedric schien gar nicht zu bemerken, dass die Mitschülerin tiefere Gefühle für ihn hegte, sondern war nur daran interessiert, die Aufgabenstellung möglichst schnell zu erfüllen, um danach quatschen oder auf sein Handy schauen zu können.
Einige Gruppen verzogen sich nach draußen, zwei blieben im Klassenraum sitzen, darunter Cedric mit seinen Mädchen. Rebecca beobachtete, wie er zur Interpretation eines Gedichts ansetzte, aber von Helena aus den Angeln gehoben wurde. Mit ihr hatte sich Rebecca gestern unterhalten. Sie war eine der Spitzen des Kurses, unglaublich ehrgeizig, in allen Fächern sehr bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden. Das strebsame Aussehen unterstrich sie durch einen strengen Zopf, der ihr gemeinsam mit dem strammen Gesicht und den böse blickenden Augen das Aussehen einer Domina verlieh.
Cedric hatte ihren Aussagen überhaupt nichts entgegenzusetzen und so wurde letztlich die Deutung von Helena gewählt. Emely hatte sowieso nichts zur Unterhaltung beizutragen, sondern saß stumm auf ihrem Platz und glitt mit ihren Augen an Cedric auf und ab, der noch immer nicht durchschaute, mit welcher Inbrunst er angestarrt wurde. Nur Rebecca merkte das Knistern in der Luft. Sie würden ein verdammt süßes Pärchen abgeben, mutmaßte sie, als sie die beiden betrachtete.
Nach zwanzig Minuten tauchten die anderen Gruppen auf, sodass die Präsentationen der Gedichte beginnen konnten. Cedrics Gruppe war die letzte. Als sie dran waren, erhob er sich wenig energisch vom Platz und schlenderte nach vorn. Helena ging strammen Schrittes Richtung Lehrertisch. Sie strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das Rebecca Angst machte. Wenn Sie jemals mit Helena in einen Disput geriet, konnte sie schon jetzt die Geigen einpacken. Der lange Zopf von Helenas pechschwarzen Haaren flog von links nach rechts, als sie sich nach vorn bewegte. Emely trottete ihren Mitschülern hinterher. Es war klar, dass sie nichts zu melden hatte. Mit einem solchen Auftreten würde sie unmöglich bei Cedric landen können, der sicherlich auf Mädchen mit Charakter stand. Emely sah zwar besser aus als Helena, aber sie würde nie über den Status eines grauen Mäuschens hinausgelangen.
»Wir haben uns das Gedicht ›Der Bauer an seinen Durchlauchtigen Tyrannen‹ von Gottfried August Bürger angesehen«, stieg Helena forsch in die Interpretation ein.
»Wie ihr lesen könnt, geht es um einen Bauern, der seinen Herrn anklagt. Er wirft ihm zum Beispiel vor, dass sein Jagdhund über den Acker rennt, den er bewirtschaften muss.«
Während Helena das Gedicht für die Mitschüler auseinandernahm, standen Cedric und Emely schweigend daneben. Cedric schaute entweder gelangweilt aus dem Fenster oder warf genervte Blicke in Richtung Lara. Es war offensichtlich, was er davon hielt, Deutsch zu haben. Emely schaute scheu durch den Raum oder lugte verstohlen nach