Rebecca blickte in ihre Unterlagen. Sie wollte nachsehen, welche Fragen sie ihrem Schüler unbedingt stellen musste. Linus drehte seinen Oberkörper leicht in ihre Richtung.
»Erzähl mir, wie du an diese Schule gekommen bist. Du bist immerhin ein Jahr älter als deine Mitschüler.«
»Ich komme ursprünglich nicht aus dieser Stadt. Meine Familie wohnt gute hundert Kilometer weg. Ich habe in meiner alten Heimat die zehnte Klasse mit ganz passablen Noten abgeschlossen.«
»Und da wolltest du das Abitur nachholen, oder wie?«
»In der Grundschule war ich in einem Handball-Verein. Ich habe wahnsinnig gern Handball gespielt, müssen Sie wissen. Viele Kinder kamen und gingen. Ich war irgendwie immer in diesem Verein aktiv, viele viele Jahre lang. Mit jeder Trainingsstunde verbesserte ich mich. Das gab mir unglaublich Selbstvertrauen. Irgendwann kam der Trainer auf mich zu und meinte, dass er mehr in mir sieht. Er sagte, wenn ich weiter übe, würde ich es noch weit bringen mit dem Sport. Er erkannte, dass ich sehr ehrgeizig war. In der Schule hatte ich damals keine besonders guten Noten. Ich schwamm immer im Mittelfeld mit, aber es gab kein Fach, in dem ich besonders gut war. Sport allerdings habe ich schon immer gern gemacht, obwohl es einige Jungen gab, die besser waren als ich. Als mich der Trainer unseres Vereins gelobt hat, war es das erste Mal, dass mir jemand ein Kompliment gemacht hat, das sich auf den Sport bezog. Ich war mega stolz auf mich. Also dachte ich: Mach was aus deiner Leidenschaft und studiere Sport! Dafür reichte aber der Realschulabschluss nicht aus. Also habe ich mich nach der zehnten Klasse hier beworben und wurde genommen. Die Aufnahmeprüfung war schwer. Da wurden Disziplinen abgeprüft, die mir nicht so liegen. Sprint zum Beispiel ist gar nicht meins.« Linus senkte den Kopf und starrte auf die ausgedörrte Erde zu seinen Füßen. Mit den Turnschuhen zeichnete er Kreise in den trockenen Sand.
»Aber nun bist du ja hier«, lächelte Rebecca ihn an. Linus hob sein Gesicht und blickte sie an. Da lag etwas in seinen grünen Iriden, das sie nicht ergründen konnte.
»Ich bin nach der Schule umgezogen, im Internat untergekommen und musste die zehnte Klasse wiederholen. Seitdem kenne ich auch Cedric.« Ein dunkler Schatten legte sich um seine Augen. Zumindest glaubte Rebecca, eine kurze Reaktion, ein Zucken um seine Augenpartie, wahrgenommen zu haben.
Da er die Andeutung selbst gab, bohrte Rebecca weiter nach. »Wie ist dein Verhältnis zu ihm?«
Er hielt kurz inne, dann fragte Linus: »Bleibt das Gespräch unter uns?«
Sie nickte. Das gab ihm das nötige Vertrauen, um weiterzusprechen: »Als ich in nach meinem Abschluss herkam, war Cedric der Schwarm der Mädchen. Sowohl in unserer Klasse als auch in der Stufe. Ich glaube, dass ihn auch manche Acht- oder Neuntklässlerin angeschmachtet hat.« Der Neid zerfraß ihn. »In unserer Klasse gab es noch elf andere Jungs, mit mir zwölf, aber Cedric war der absolute Star. Beim Sport war er immer der Beste, obwohl er ansonsten nicht unbedingt gute Noten hatte. Aber dazu können Sie ihn selbst befragen.«
Rebecca hörte interessiert zu. Obwohl Linus sehr kontrolliert sprach, merkte sie trotzdem, dass es in dem Jugendlichen arbeitete, denn er zog die Augenpartie zusammen und verkniff den Mund zu einem dünnen Schlitz. Sein Gesicht war schmal, aber nicht unbedingt hässlich. Er besaß eine gerade Nase, die ihm einen eleganten Touch verlieh. Seine schwarzen Haare waren akkurat geschnitten. Nicht so ungezähmt wie die seines Mitschülers. Linus trug ein ziemlich aufdringliches Parfum, das Rebecca bereits in der Disco unangenehm aufgefallen war. Es stach in ihrer Nase. Da sie nicht unfreundlich sein wollte, blieb sie nah neben ihm sitzen, auch wenn der penetrante Geruch ihr zu schaffen machte.
»Jedenfalls ließ er mich recht offensichtlich wissen, dass er von meinen sportlichen Leistungen nicht viel hielt.« Linus presste die Lippen noch fester aufeinander und überlegte bemüht, was er preisgeben wollte. Er sprach aber nicht weiter.
»Wurdest du gemobbt?«, sprach Rebecca die Vermutung offensiv aus.
»Nicht direkt«, deutete er an. »Er hat es mir nie ins Gesicht gesagt, was er von mir hält. Aber wenn ich zum Beispiel gerannt bin, hat er manchmal seltsame Geräusche von sich gegeben, gepfiffen oder sich in einem ganz speziellen Tonfall geräuspert. Alle anderen Jungs haben mich komisch angeglotzt. Ich denke, dass sie hinter meinem Rücken gelästert haben. In der Umkleidekabine wurde es jedenfalls immer still, wenn ich reinkam.«
Rebecca beschloss, Cedric unauffällig dazu zu befragen, ohne ihr Gespräch mit Linus zu erwähnen. »Reden wir doch mal darüber, dass ihr beide in einem Kurs seid.«
»Sie meinen, weil wir beide Deutsch-Leistungskurs gewählt haben und nicht Mathe? Nun ja, ich bin eine Niete in Mathe. Von daher war klar, dass ich nach der zehnten Klasse Deutsch als Leistungskurs nehmen werde. Cedric hatte ähnliche Probleme mit den Zahlen und Gleichungen. Alle anderen Jungs haben sich für den Mathe-Leistungskurs entschieden. Ich habe inständig gehofft, im anderen Deutsch-Kurs zu sein, aber das Schicksal wollte es, dass wir zusammenbleiben. Hm…« Ein angespanntes Grinsen trat auf sein Gesicht.
»Hat sich das Verhältnis zwischen euch gebessert, als ihr in die elfte Klasse gekommen seid?«, wollte Rebecca wissen, weil Linus nach wie vor aufgerührt wirkte.
»Wir waren die einzigen Jungen im Kurs. Irgendwie hat sich Cedric am ersten Schultag in der elf neben mich gesetzt. Frau Fritsche hat ganz erstaunt geguckt, als sie uns auf einer Bank gesehen hat. Sie wusste natürlich, dass wir keine Freunde waren. Aber scheinbar hatten die Sommerferien davor bewirkt, dass Cedric einfach die zehnte Klasse vergessen hat. Er saß dort am ersten Tag nach den Ferien und seitdem immer. Aber nur im Tutorkurs. Sobald Pause war und er mit seinen Freunden abhing oder wenn er mit seinen früheren Kumpels zusammen Unterricht hatte, war ich Luft.«
Rebecca schwieg. Ließ nachwirken, was er ihr offenbarte.
»Hast du noch den Wunsch, Sport zu studieren?«
»Unbedingt. Ich arbeite sehr hart dafür, trainiere immer fleißig, wenn ich nachmittags im Internat bin.« In seiner Stimme lag der unbedingte Wille, sein Ziel zu erreichen. Das achtete Rebecca sehr. Bisher hatte sie geglaubt, in Linus einen wenig ehrgeizigen Schüler zu finden. Doch er steckte voller Überraschungen. Auch als er ihr erzählte, dass er sehr gläubig erzogen wurde und sich später eine Familie mit Kindern wünschte.
»Hast du schon eine Freundin, mit der du diesen Plan durchziehen willst?«
Doch auch darauf reagierte Linus seltsam in sich versunken. »Ich hatte