Aris warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Was stammelst du denn so? Hast du einen Sprachfehler?“
Kel biss sich in die Innenseite ihrer Backe.
„Zum Pinkeln geht’s links den Gang entlang, die letzte Tür führt nach draußen auf eine Außentreppe, dann folgst du dem gesäumten Kiesweg. Am Ende stehen zwei kleine gelbe Gebäude mit roten Pagodendächern. Das größere ist das Badehaus und im kleinen Gebäude kannst du pinkeln und alles, was du sonst noch tun musst.“ Er setzte ein anzügliches Grinsen auf. Sofort sprang Kel vom Bett auf und schlüpfte in ihre Stiefel. Dann eilte sie hinaus zu der rettenden Abortanlage.
Kel machte sich auf den Weg zur Kleiderkammer. Meister Dakin, der sich um die Ausstattung der Tempellehrlinge kümmerte, war ein Mann von muskulöser Statur, dunkler Hautfarbe und mit dichten, schwarz gelockten Haaren, wie viele Bewohner des Südreiches sie besaßen, deren Vorfahren vor einigen hundert Jahren aus dem fernen Wüstenreich Ghami als Sklaven eingeführt worden waren. Er erinnerte sie ein wenig an den freundlichen Wüstenmann, nur dass Meister Dakin keinen Turban trug. Sklaverei gab es nur noch im Südreich, trotz des Gesetzes, welches der Urgroßvater des amtierenden Königs erlassen hatte, um sie abzuschaffen; doch die Gewalthaber des Südens hielten sich nicht daran, stattdessen erschufen sie ihre eigenen Gesetzte, was immer wieder zu Streitigkeiten und zuletzt zu Kriegen mit der Königsstadt Ashamur geführt hatte.
„Kommen herein, Junge!“, sagte Meister Dakin mit dem fremd klingenden Akzent seiner Wüstenheimat und musterte sie von Kopf bis Fuß. „Heilkunst oder Kampfkunst?“
Kel verneigte sich zur Begrüßung mit einer formvollendeten Geste. „Kampfkunst“, antwortete sie mit tief verstellter Stimme. Der Meister umrundete sie und blieb dann vor ihr stehen, sein bartloses Kinn in seine Hand gestützt. „Schwierig“, murmelte er „hoffen ich, dass du bekommen noch mehr Muskeln und wachsen noch.“ Mit diesen Worten verschwand er in einen Nebenraum und kehrte kurz darauf mit einem Stapel verschiedener Kleider und Stoffe zurück.
„Für Kämpfen...“, sagte er und legte ihr die gleiche schwarz-rote Jacke, die Aris vorhin angezogen hatte, in den Arm. Dazu ein schwarzes, langärmeliges Hemd und eine passende Hose in derselben Farbe sowie eine einfache Gürtelschärpe.
Als nächstes gab er ihr ein gelbes Gewand mit einer schwarzen Seidenschärpe. „Für Meditation!“
Außerdem folgten ein knöchellanges, graues Nachtgewand aus Leinen, beigefarbene und braune Hosen und ein hüftlanger graublauer Kittel für allgemeine Tätigkeiten, die im Tempel verrichtet werden mussten, wie Kel erfuhr. Mit knurrendem Magen und dem Berg frischer Kleidung im Arm verließ sie Meister Dakin.
Sie eilte den Gang entlang nach draußen zum Badehaus. Denn zuvor hatte sie dort eine kleine Kammer entdeckt, die man von innen verschließen konnte. Es war der perfekte Ort, sich ungestört umzukleiden. Schnell entkleidete sie sich, vergewisserte sich, dass die Bandagen um ihre Brust noch fest geschnürt waren und schlüpfte in die schwarze Kampfmontur. Glücklicherweise war der Kragen bis zur Halsmitte hoch geschnitten, sodass sie sicher gehen konnte, dass die Bandagen nicht hervorschauten, was gewiss Fragen aufwerfen würde.
Vor ihrer Zimmertür atmete sie nervös. Ihr Herzschlag trommelte in ihren Ohren. Sie konnte diesen Aris nicht genau einschätzen. Er war nicht besonders nett, allerdings auch nicht so ein Fiesling wie Taik. Im Übrigen schien Aris jede Menge Spaß daran zu haben, sich über die Neuankömmlinge lustig zu machen oder sie auf etwas herabwürdigende Art zu belehren.
Sie trat ein.
„Da bist du ja endlich, Milchgesicht!“, schallte ihr prompt Aris´ Stimme entgegen. Kel blickte auf den blonden Jungen, der längs auf dem Fußboden beugte und Übungen zur Kräftigung seiner Schulter-, Brust- und Armmuskulatur machte. Diesmal hatte Kel einen uneingeschränkten Ausblick auf die glatte nackte Haut seines Rückens, dessen angespannte Muskeln mit winzigen Schweißperlen überzogen waren. Kel riss sich zusammen, um nicht schon wieder zu starren. Sie schloss die Tür und tappte hinüber zu ihrem Bett, wo sie die Kleider ablegte.
Während Aris seine Eigengewichtsübung fortsetzte hörte Kel ihn leise zählen. Als er bei einhundertsiebzehn angelangt war, sprang er ohne Vorwarnung auf die Füße. Er musterte sie in ihrer neuen Kampfkleidung, die etwas zu locker an ihrem Körper saß und an Ärmeln und Beinen etwas zu lang ausfiel.
„Kleinere Sachen gab es nicht“, sagte Kel, als müsse sie sich dafür entschuldigen.
Aris nickte mit hochgezogenen Brauen. „ Wen wundert´s? Frauen und Kinder gehören üblicherweise nicht zur Körperschaft eines Ausbildungstempels“, spöttelte Aris. Vor Empörung riss Kel ihren Mund auf. Er ahnte ja nicht, wie nahe er der Wahrheit damit gekommen war.
Sie hätte ihm am liebsten ihre Meinung, hinsichtlich seiner ständigen Beleidigungen an den Kopf werfen. Doch sie riss sich zusammen. Sie konnte ihrer Stimme nicht vertrauen, vor allem, wenn sie erregt war, klang sie zu schrill und ganz und gar nicht männlich. Sie musste dringend wieder einen Wolfsnesselaufguss zubereiten und trinken, denn wenigstens sorgte dieser zuverlässig für eine heisere Stimme. Zumindest für ein paar Tage.
„Ich bin kein Kind. Ich bin fünfzehn!“, sagte sie und blitzte ihn an. Dabei fiel ihr auf, dass er tiefgrüne Augen besaß, die wie zwei Smaragde wirkten, die man zur Zierde in seinem attraktiven Gesicht platziert hatte.
Er sah sie zweifelnd an. „Und du bist sicher, dass du kein Eunuch bist?“
Kel verdrehte die Augen. Nicht dass sie Jard am Ende noch um dessen Sempo beneiden würde.
***
Aris hielt Wort und ließ seinen Koho erbarmungslos die neuen Kleider in einer speziellen Technik falten, die der Junge zwar schnell lernte, dennoch mangelte es ihm, seiner Meinung nach, an den Feinheiten.
„Noch mal, da ist eine Falte zu viel!“, rügte Aris ihn und entfaltete das Kleiderpaket, sodass Kel von vorne beginnen musste. Er hörte den Magen des Jungen knurren. „Solange du die Technik nicht ordentlich beherrschst wird es leider nichts mit Frühstück!“, mahnte er Kel, der ihn aus einem leidenden Milchgesicht ansah. Er wird doch wohl nicht anfangen zu heulen, dachte Aris. Weichei!
Aris war ebenfalls hungrig, doch als Kel es endlich geschafft hatte, ordentliche Kleiderpakete zu packen, war es bereits zu spät fürs Frühstück. Die nächste Mahlzeit gab es erst zur Mittagsstunde.
Ungeduldig ging er zu Tür. „Es wird Zeit für dein Training. Großmeister Nakoro erwartet täglich meinen Bericht über deine Leistungen.“
Sie betraten den riesigen Innenhof der Tempelanlage, der in mehrere Bereiche abgesteckt war. Einige Felder waren mit gelbem Sand bedeckt, andere waren mit Gras bewachsen und wieder andere mit steinernen Bodenplatten ausgelegt. Die meisten Felder waren besetzt. Meister Asak trainierte mit sieben Lehrlingen der Mittelstufe eine Kampftechnik, die sehr viel Konzentration erforderte, während Meister Nakoro mit zwei Oberschülern auf einer Grasfläche saß und ihnen schwere Bewegungsabläufe anhand von Zeichnungen erklärte.
Aris schob seinen Lehrling auf eine freie Steinfläche.
„Zieh deine Schuhe aus!“, diktierte er. Kel tat, wie ihm geheißen. Beim Anblick der kleinen Füße seines Schülers hätte Aris sich vor Schreck beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. Unvermittelt überkam ihn ein Anflug von Mitleid für den Jungen. „Wie kommt ein unterentwickelter Knabe wie du eigentlich auf die Idee, diese anspruchsvolle Form des Kämpfens erlernen zu wollen? Jemand wie du wäre besser in irgendeinem Amt aufgehoben“, sagte er in seiner üblichen unsensiblen Art und erkannte erst, als Kel betrübt auf seine Füße sah, dass der Junge gekränkt sein könnte. Schließlich konnte der arme Kerl ja selbst nichts für seine körperlichen Defizite. Wenn er Glück hatte, war er vielleicht wirklich nur ein Spätzünder. Aris wünschte es ihm. Dennoch, Kel hatte sich für die Ausbildung im Tempel entschieden, was bedeutete, dass er genauso hart arbeiten musste, wie jeder andere, dessen körperliche Voraussetzungen Erfolg versprechender waren.
„Eines