SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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schafft diese Schule“ hörte ich dieser Tage eine Schülerin besonders laut sagen, als ich vorbeiging. So haben doch die meisten von Euch – sicher gab und gibt es Ausnahmen – auch empfunden. So müsst Ihr ja auch empfunden haben – Ihr seid doch jung. Und wer sieht in Eurem Alter und aus eigenen Stücken oder gar gerne ein, dass Schule notwendig der erste gesellschaftliche Kontrapunkt Eures heranwachsenden und sich orientierenden, sich probierenden Lebens ist? Und wir Lehrer sind es, an denen Ihr Euch – zugestandenermaßen oder nicht – reibt und gerieben habt. Bildungsauftrag und Schulalltag: Reibefläche Eurer Individualitäten! Persönlichkeiten wachsen selten in Harmonie. Solltet Ihr diese Erfahrung beim Abschied, beim Fortgang über Bord werfen, vergessen wollen?

      Unsere persönliche Freiheit ist bestimmt durch die Notwendigkeit sozialer (= mitmenschlicher) Verantwortung. Hierfür muss ich mich in die Pflicht nehmen lassen. Die Gesellschaft, in die wir Euch entlassen, ist eine Ellenbogengesellschaft, die nur an das denkt, was sie hat und was ihr nützt, die Sinn und Inhalt von Leistung nur misst nach Zahl, Haben und Gewinn. (Das Gegenbild – es gibt es noch – wird eher ausgelacht als ernstgenommen.) In diese Gesellschaft, die ihr soziales Gewissen mit der täglichen Statistik über Millionen von Arbeitslosen, mit täglichen Hunger- und Elendsbildern aus den unterentwickelten Gebieten der Erde, mit ministerieller Beschönigung immer neuer Umweltkatastrophen fernvisuell beruhigt und danach abschaltet, wachst Ihr mit Eurer „Schulweisheit“ hinein. Haben wir Euch denn die Reife vermittelt, die Ihr braucht, diese Welt für Euch selbst zu begreifen und zu bewältigen? Welche Freiheit habt Ihr denn noch – wenn nicht die aus Euch selbst heraus –, Euch diese Welt lebenswert zu gestalten?

      Bei dieser Frage komme ich zurück zu jenem „Zwang“ der Schule, zu den „kleinen“ Pflichten: Sie fordern uns täglich. Aber wenn wir uns täglich in der von uns geforderten Pflicht üben (auch und gerade gegen den „inneren Schweinehund“), haben wir es im Leben leichter, die Forderung der Gesellschaft an uns zu begreifen und zu bestehen. Das hat die Schule zu leisten: lernen, dass wir eines Tages selbst Verantwortung zu übernehmen haben gegenüber dem Mitmenschen. Das kann ich nur, wenn ich gelernt habe, mich selbst in die Pflicht zu nehmen. Ich glaube, diese Erfahrung nehmt Ihr doch mit hinaus, wenn Ihr geht. Auch das macht den Abschied leichter – trotz aller Ungewissheit über den kommenden Weg, den Ihr geht.

      Es zählen nicht die Punkte, die Ihr auf Eurem Abiturzeugnis mit auf den Weg nehmt … (sicher, für den Numerus Clausus einer zentralgesteuerten Studiumzulassungsquote haben sie Funktion) – aber das meine ich hier nicht. Denkt auf Eurem weiteren Lebensweg und später im Beruf nicht an diese oder ähnliche Ziffern. Was besagen sie schon? Noten, Schlüsselzahlen für den vermeintlichen Erfolg. Es zählt im Leben nur, ob Ihr anständig geblieben seid: vor Euch selbst und gegenüber anderen. Dieser Wunsch möge Euch an Eure Schule erinnern.

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      1.1.5 Abiturientenentlassung Gymnasium OHZ am 14. Juni 1991

      Festansprache: StD. Schikore

      (LK-Kurslehrer u. Abiturkoordinator)

      Meine Damen und Herren!

      Sehr geehrte Eltern!

      Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!

      Ich schließe in der Stunde Ihrer Entlassung, in der Stunde Ihres Abschieds auch den jungen Menschen mit ein, dessen Abschied – es war sein letzter – noch vor uns allen liegt und der doch gerne den heutigen Tag miterlebt hätte: Maik Junghans. An seinem kurzen Leben haben Sie wohl etwas von dem geahnt, was geschehen ist und wie schnell sich in einem Leben Anfang und Ende ereignen. Wie bewältigen wir unser Ereignis Leben? Welche Dauer ist uns zugemessen? Was überdauert uns?

      Auch in dieser Stunde ereignet sich Geschehen und lässt Geschichte ahnen: Die Schule liegt hinter Ihnen als Vergangenheit, vor Ihnen öffnet sich Zukunft. Und nicht jedem Schülerjahrgang zeigt sich Geschichte in ihrem konkreten politischen Geschehen so hautnah und weltumfassend wie dem Ihrigen: Die Ereignisse der Jahre 1989, 1990 und dieses Jahres halten uns in unseren, sie begleitenden Wünschen, Hoffnungen und auch Ängsten in Atem und machen uns betroffen. Diese Betroffenheit sucht Antwort im Fragen an die Geschichte. Darum lassen Sie mich heute von der „Verantwortung vor der Geschichte“ zu Ihnen sprechen.

      Das Wort ‚Geschichte‘ scheint uns bei einer ersten Begegnung mit ihm immer etwas sehr Fernliegendes, fast Fremdes und Sachliches zu sein. Wir meinen sehr oft – zu oft –, uns aus unserem Heute, aus dem Augenblick begreifen zu sollen. Doch Geschichte wohnt schon in unserem Erinnern sehr dicht bei uns. Und jeder Schritt, den wir in das Leben tun, ist zugleich ein Schritt in die Geschichte, in unsere Geschichte. Der Mensch ist in seinem Seins-Verständnis und in seinem politischen Tun ein zutiefst historisch bestimmtes Wesen. In seiner jeweiligen Gegenwart ist er in seinem Handeln und Denken immer bezogen auf seine Vergangenheit und gerichtet auf seine Zukunft, und das heißt zugleich: gerichtet auf das, was auf uns zukommt. An diesem Schnittpunkt von Gestern und Morgen – unserer Gegenwart – sind wir zu einer Entscheidung gefordert: geschehen zu lassen, was uns geschieht, oder selbst handelnd in das Geschehen einzugreifen und es mit zu bestimmen. Hier liegt eine Wesensbestimmung des Menschen, hier liegt die Wurzel dessen, was wir zu verantworten haben.

      Ich möchte zum Grundverständnis des Gesagten noch ein weiteres Bild als orientierende Begriffsklärung hinzufügen: Geschichte ist Stein gewordenen Politik. Seine äußere Schale ist der Witterung von Zeit und Geschehen ausgesetzt und wird von immer neuen Schichten überlagert, bis sie – selbst Vergangenheit geworden – in ihrem sedimentären Kern Gegenwärtigen verborgen ist. Erst Neugier, Interesse und Wissensdurst nach unserer Herkunft lassen uns als Gegenwärtige den Bohrer an jenen Stein ansetzen und nach Erkenntnissen über das Vergangene suchen. Was wir an hervorgeholtem Sedimentgestein sortieren, analysieren und aufzeichnen, ist ein punktuelles Erkennen unserer selbst, dessen Wissenswertes wir festhalten, damit es Künftigen bewusst werde und eine Spanne Zeit vielleicht auch bleibe. Das heißt nun auch in andere Richtung, auf die Zukunft hin: „Wer nach vorne fragt, sieht sich unvermeidlich von rückwärts her gefragt.“ In dieser einfachen Formel meines längst verstorbenen alten Göttinger Hochschullehrers Reinhard Wittram liegt eine für unseren historischen Lernprozess grundlegende Einsicht: Wir bleiben in der jeweils neuen Generation gebunden an das Tun der vorangegangenen, wir bleiben vor der Geschichte in der Verantwortung der Generationen.

      Nun ist alles Suchen nach Erkenntnis über uns auch ein Lernen an uns. Lernen aber ist immer – neben allem Festhalten an Überlieferungswertem – auch ein Begehen von Fehlern. Ich greife wieder zu einer Formel meines alten verehrten Lehrers: „Nichts auf Erden ist ohne Geschichte, kein Irrtum und keine Wahrheit.“ Hier stoßen wir auf eine weitere Bedingtheit unserer historischen Existenz: Indem wir in ein Zeitalter hineingeboren werden, sind wir Partner, Teilhaber seiner Irrtümer und Wahrheiten. Welches aber sind unsere Irrtümer, welches unsere Wahrheiten? Hier liegt eine weitere, nicht gering zu veranschlagende Schwierigkeit, Geschehen zu verantworten. Wir bleiben eingebunden in den Relativismus unserer historisch-ideologischen Bedingtheit, die immer auch ein Relativieren von Werten meint. Von hier aus wird die Begründung politischen Handelns aus einer historisch gesetzten sittlichen Norm schwierig.

      Ich will mein Thema nicht ausweiten, ob und wieweit unser politisches Handeln aus dem Bekenntnis zu einer Gesinnungsethik begründet oder von der Einsicht in eine Verantwortungsethik geleitet ist. Ich will nur den Unterschied skizzieren, aus welchen Motiven politisches Handeln historisch dokumentiert ist. Wenn auf den Kreuzzügen des Mittelalters – ich muss in den Vergleichen stark vereinfachen – die Glaubenskrieger mit der Bibel und dem Schwert in der Hand zum Kampf gegen die Ungläubigen (welche doch auch Gläubige waren) auszogen, dann lag in dem politischen Machtanspruch der Päpste der Absolutheitsanspruch auf die alleinige und ewige Wahrheit. Wenn in den roten Revolutionsarmeen unseres Jahrhunderts die geschundenen Proletarier mit den Parolen eines Marx und Lenin im Munde und mit dem Gewehr in der Hand zum Sturm auf die Paläste zogen, dann lag in dem politischen Anspruch auf Weltrevolution der Absolutheitsanspruch des Menschen auf Verwirklichung eines Erdenglücks. Nicht Kreuzritter, nicht Barrikadenkämpfer zählten die Toten,