Er sah sie mitleidig an. „Tut mir wirklich leid, meine Kleine. Wenn du ein paar Jahre älter wärst, hätte dich mein Weib auch nicht fortgeschickt. Aber sie braucht dringend eine helfende Hand und kein kleines Mädchen, das ihr noch zusätzlich Arbeit macht. Und ich brauche ein zufriedenes Weib“, fügte er stöhnend mehr zu sich selbst hinzu. „Aber du wirst sehen, Madame Letizia ist recht umgänglich. Lass dich nicht von dem grässlichen Weib von eben erschrecken! Die zischt nur, beißt aber nicht.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und die knurrige Alte erschien in ihrer buckligen Gänze. „Sie erwartet euch“, sagte sie knapp und ging voran. Fanida blickte mit weit geöffneten Augen auf den Buckel der Frau, der jetzt wie ein Felsen vor ihr aufragte. So mussten die bösen Meerhexen aussehen, vor denen sie ihr Vater stets gewarnt hatte. Er sagte immer: „Bleib vom Wasser weg, solange du nicht gut schwimmen kannst! Unter Wasser hocken die buckligen Meerhexen und fangen alle, die nicht vor ihnen davonschwimmen können. Sie selbst haben keine Flossen und jagen darum voller Neid Nixen, die zu nahe ans Ufer kommen, um sich zu sonnen. Ab und zu erwischen sie dabei auch mal einen Menschen. Also hüte dich.“ Bei dem Gedanken an ihren Vater wurde Fanidas kleines Herz noch schwerer.
Sie gelangten in ein großes dunkles Treppenhaus. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Nur ab und zu kamen ihnen ein paar kleine Mädchen entgegen. Sie schwiegen und hielten züchtig die Köpfe gesenkt. Nur kurz warfen sie einen Blick auf Fanida und ihren Begleiter. Eine breite Treppe führte in das obere Stockwerk. Schließlich gelangten sie an eine Tür, in die kunstvolle Efeuranken eingeschnitzt waren. Die Alte drückte die Klinke hinunter und öffnete einen Spalt breit. „Hier sind sie“, teilte sie der Person hinter der Tür mit. Sie trat beiseite und der Wirt schob das Mädchen vor sich her, in den Raum hinein.
Fanida fielen zuerst die vielen Bücher ins Auge, die in deckenhohen Regalen die Wände füllten. Hinter einem massiven Tisch, auf dem sich etliche Dokumente stapelten, saß eine Frau. Sie war schon etwas älter und eine beeindruckende Erscheinung. Sie trug das Haar straff zu einem Knoten zusammengebunden und wirkte dadurch strenger, als es ihre freundlichen Augen vermuten ließen.
„Simon, seid gegrüßt! Wir haben uns aber lange nicht mehr gesehen“, stellte sie distanziert freundlich fest.
Der Wirt wirkte in der Nähe von Madame Letizia spürbar eingeschüchtert. Er trat nervös von einem Bein aufs andere. „Madame, ich bin gekommen, um Euch zu bitten, dieses Mädchen hier aufzunehmen. Im Gegenzug würde ich ein älteres Kind aus Eurem Haus bei mir anstellen. Wie Ihr vielleicht wisst, ist das letzte Mädchen, dass ich vor zehn Jahren, nach dem Tod meiner damaligen Frau, bei mir aufnahm, inzwischen mein neues Weib geworden. Sie erwartet in fünf Monaten ein Kind und braucht Hilfe. Doch diese Kleine hier ist einfach noch zu jung, um sie bei den anfallenden Arbeiten zu unterstützen. Sie ist eine Waise und wurde von Durchreisenden einfach zurückgelassen.“
„Das ist eine Lüge!“, rief Fanida entsetzt. „Meine Mama lebt noch und ich werde sie, gemeinsam mit meinem Bruder Ammon, von den bösen Männern befreien. Ammon ist nicht weg! Er kommt bald zurück und holt mich. Das hat die Frau gesagt.“ Verzweifelt schlug sie mit den kleinen Fäusten auf den Wirt ein, der all seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden musste, um sie zu bändigen. Hilfesuchend blickte er zu Madame Letizia.
Die erhob sich nun und trat an die beiden heran. Sie zog Fanida mit einem festen Griff von dem hilflosen Mann fort und sah ihr eindringlich in die Augen. „Hör zu, Mädchen! Keiner hier will dir etwas Böses. Du bekommst ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Tagsüber helfen die Kleinen bei der Obstlese in den Plantagen der Umgebung und die Großen gehen gehobeneren Tätigkeiten nach. Die Mädchen aus diesem Haus haben später gute Chancen, eine ordentliche Stellung zu finden. Du könntest es also durchaus schlechter treffen.“
„Ich gehe mit Ammon nach Isfadah!“, schrie Fanida jetzt schrill und hielt sich dabei die Ohren zu. Sie wollte kein Wort mehr hören.
Doch Madame Letizia ließ sich nicht einschüchtern. Sie rüttelte das Mädchen kurz und sagte laut: „Du wirst dich jetzt beruhigen, meine Kleine. Hör zu! Wenn dein Bruder oder deine Mutter jemals hier auftauchen, dann kannst du mit ihnen gehen. Sie werden dich finden, wenn sie nach dir suchen. Du hast allein keine Chance. Also sei vernünftig und verhalte dich, wie es sich für ein anständiges kleines Mädchen gehört.“ Sie hatte die nötige Strenge in ihre Stimme gelegt, um sich Respekt zu verschaffen. Solche Ausbrüche waren in diesem Hause nicht gestattet. Den Mädchen drohten Strafen, wenn sie sich ungebührlich verhielten. Die Disziplin und der Respekt mussten gewahrt werden. „Es wird dir hier besser gehen als allein auf der Straße. Solange du hier bist, sind alle anderen Mädchen deine Schwestern und meine Erzieherinnen und ich werden die Rolle deiner Eltern übernehmen. Also füge dich in diese Ordnung ein und du wirst es gut haben. Simon und seine Frau werden jeden herschicken, der nach dir fragt. Das versichere ich dir.“
Fanida wischte sich mit ihrem Ärmel das Rotznäschen ab und blickte beide prüfend an. Der Wirt lächelte sie unsicher an und nickte zur Bestätigung. Madame sah ihr streng aber offen ins Gesicht. Fanida kam zu der Einsicht, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Sie ließ die Schultern sinken und fügte sich ihrem Schicksal. Was danach besprochen wurde, nahm sie nur am Rande wahr.
Am Ende des Tages saß sie in einem großen Schlafsaal, zwischen zahlreichen anderen Mädchen, auf einem wackligen Holzbett und verweigerte jedes Wort. Fest hielt sie ihre Puppe an die Brust gepresst und wendete all ihre Kraft dazu auf, nicht zu weinen. Sie nahm sich vor, solange zu schweigen, bis Ammon sie hier abholen würde. Sie vertraute ihrem Bruder voll und ganz und war sicher: Wenn er die Möglichkeit hätte, würde er zu ihr kommen.
Die anderen Mädchen, zwischen drei und sechs Jahren, gaben irgendwann ihre Versuche auf, sie zum Reden zu bringen. Bald hatte sich die Aufregung um die neue 'Schwester' gelegt und es kehrte wieder Ruhe ein. Eine Erzieherin, die aussah wie eine abgemagerte Ratte mit Dutt, ging steif durch die Bettreihen und sagte schnarrend: „Gute Nacht! Und dass ihr mir ja in den Betten bleibt! Morgen erwartet euch ein anstrengender Tag in den südlichen Orangenplantagen. Da möchte ich keine Klagen hören!“ Sie verließ den Saal und nahm mit ihrer Laterne die einzige spärliche Lichtquelle mit sich.
Nach einer Weile hatten sich Fanidas Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte im Mondlicht wieder schwache Umrisse erkennen. Sie lauschte auf die Geräusche ringsum. Seltsamerweise schienen sich alle an die Anweisung der Rattenfrau zu halten. Hier und da knarrte ein Bett, als das ein oder andere Mädchen nach der richtigen Schlafposition suchte. Dann wurde es still und nur noch das gleichmäßige Atmen aus den kleinen Nasen und Mündern war zu hören. Jetzt endlich konnte Fanida dem Druck in ihrem Inneren nachgeben und leise in ihr Kissen weinen. Noch vor ein paar Tagen war ihre Welt so heil und wunderschön gewesen. Und nun? Wie eine eiskalte Hand aus Stahl umfassten Einsamkeit und Trauer ihr kleines Kinderherz.
Plötzlich spürte sie, wie sich ihre Bettdecke hob und das Mädchen aus dem Bett neben ihr darunter schlüpfte. Fanida hatte sie vorhin kurz bemerkt. Sie war etwas älter als sie selbst und hatte große blaue Augen und blondes Haar. „Ich bin Noria. Hab keine Angst. Es ist hier nicht so schlimm, wie es scheint. Allerdings musst du dich an die Gesetzte dieses Hauses halten. Sonst kann es auch mal sehr unangenehm für dich werden. Aber Schläge verteilen sie nur selten.“ Das etwa sechsjährige Mädchen zog Fanida schützend in ihre Arme und die ließ es sich bereitwillig gefallen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie Noria vertrauen konnte.
Die fuhr flüsternd mit ihren Erklärungen fort: „Bei Sonnenaufgang müssen wir aufstehen. Dann gibt es Frühstück - meist Haferbrei. Und dann gehen wir auf den Gütern des Umlandes Obst pflücken. Die Älteren klettern in die Bäume und die Kleinen, so wie du, sammeln das Fallobst auf und pflücken die unteren Äste ab. Dafür wird Madame Letizia bezahlt und kann uns ernähren und einkleiden. Du siehst, es hätte uns schlimmer treffen können. Die Mädchen, die älter als zwölf Jahre sind, finden meist irgendwo eine Stelle als Dienstmädchen. Bis dahin erledigen sie hier im Haus alle anstehenden Arbeiten. Sie kümmern sich ums Waschen, Putzen und Kochen. Sozusagen als Vorbereitung auf ihre Zukunft. Schließlich wollen unsere zukünftigen Brotgeber kein Mädchen haben, das keine Ahnung davon hat, was im Haus zu tun ist. Ich werde in ein