Farids Augen wurden für einen Moment schmal, als er den Jungen musterte. Doch dann entspannten sich seine Züge sofort wieder. Niemand hatte davon Notiz genommen und auch Farid selbst war seine Reaktion nicht wirklich bewusst gewesen.
„Gib Ruhe, Bursche!“, forderte der genervte Ausbilder energisch. Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an seinen König: „Es tut mir leid, Hoheit, aber er wurde gerade erst abgeliefert. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu, ihn ruhig zu stellen.“
Farid hob beschwichtigend die Hände. „Nur keine Aufregung meinetwegen. Verfahrt einfach so, als wäre ich nicht anwesend!“
Der Knabe wurde ebenfalls angekettet und unter Androhung von Gewalt schwieg er schließlich. Wenig später begab sich die schier endlose Kette von unfreiwilligen Anwärtern auf den Weg ins Lager. Dazu benutzten sie dasselbe Tor, durch welches Farid und seine Begleiter es zuvor verlassen hatten. Drinnen stand ein Spalier von älteren Knaben. Unter ihnen war auch Farids Duellgegner. Sie blickten starr geradeaus und es herrschte Totenstille.
Die Neuankömmlinge waren sichtlich beeindruckt und sahen sich ängstlich um. Dann mussten sie sich in einer langen Reihe aufstellen. An beide Enden traten jetzt ältere Rekruten heran und reichten den Knaben prachtvolle Kelche mit einer dampfenden Flüssigkeit. Sie achteten akribisch darauf, dass jeder Junge mindestens drei große Schlucke des Trankes zu sich nahm. Farid war gespannt darauf zu verfolgen, was weiter geschah. Als die Letzten ihre Dosis 'Vergessen' hinunterschluckten, begannen die Ersten sichtlich zu schwanken. Nacheinander sackten sie zusammen und fielen in einen kurzen und sehr tiefen Schlaf. Sie spürten nichts davon, dass man ihnen die Ketten entfernte, sie vollkommen entkleidete und ihnen alles Persönliche abnahm.
Nach einer knappen halben Stunde kamen die Ersten wieder zu sich. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Farid hätte erwartet, dass sie sich verunsichert umsehen oder wenigstens Erstaunen darüber äußern würden, dass sie nackt waren. Doch sie schienen alles als gegeben hinzunehmen, was man ihnen sagte.
„Ihr seid nichts!“, begann der oberste Ausbilder seine 'herzerwärmende' Rede. „Ihr habt nicht einmal einen Namen. Euer König und Vater gibt euch Kleidung und Nahrung. Einen Namen und Ehre müsst ihr euch selbst verdienen.“ Er gab ein Zeichen und es wurden knielange Hemden aus grauem Stoff verteilt, die sich die Knaben nun überwarfen. „Ihr werdet jetzt zu eurer Unterkunft gebracht, die ihr peinlich sauber halten solltet. Dort wartet eine Abendmahlzeit auf euch und ihr werdet einen Platz für die Nacht finden. Schlaft euch aus, denn schon morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird alles von euch abverlangt werden. Bestimmt an jedem Abend einen von euch, der den täglichen Dank für euren König und Vater spricht. Ohne ihn wäret ihr einsam und schutzlos. Also dankt ihm für die Fürsorge, die er euch Unwürdigen entgegenbringt!“
Farid ließ seinen Blick schweifen. Die Knaben hingen förmlich an den Lippen des Redners. Sie schienen nicht im Geringsten mit ihrem Schicksal zu hadern. Gehorsam folgten sie ihren künftigen Ausbildern zu den Quartieren.
Farid hob bei deren Anblick ungläubig die Brauen. Es handelte sich dabei lediglich um Dächer auf Stelzen. Der Boden bestand aus Brettern, die eine halbwegs gerade Fläche bildeten. Es gab mehrere derartige Unterkünfte für jeweils etwa dreißig Knaben. In einem gewaltigen Topf, der zwischen den Behausungen über offenem Feuer hing, blubberte eine undefinierbare braune Masse vor sich hin.
Farid sah sich das Ganze aus der Nähe an. „Was um Himmels willen bekommen sie zu essen?“, fragte er den obersten Ausbilder angewidert.
„Dies ist ein nahrhafter Brei aus Kumabohnen und Milchlake. Er enthält alles Notwendige, um satt zu machen, das Muskelwachstum zu steigern und Kraft zu geben. Sicher, er sieht scheußlich aus und schmeckt auch nicht wesentlich besser, doch sie essen ihn alle. Und er ist sehr billig herzustellen.“
Auf dem Boden der Quartiere lagen einfache Schilfmatten und darauf standen Schüsseln aus Holz, mit ebenfalls hölzernen Löffeln.
Die Kinder verhielten sich für ihr Alters eher ungewöhnlich. Sie begaben sich geordnet, einer nach dem anderen, zu je einem der Schlafplätze und griffen nach den Schüsseln. Dann holten sie sich ihre Essensrationen ab und hockten sich anschließend schweigend an ihren Platz. Dort löffelten sie, ohne zu murren, die stinkende Pampe aus.
Farid drehte sich der Magen um, bei dem Gedanken ebenfalls davon essen zu müssen ...
Doch diese Gefahr bestand nicht. Er wurde in ein prachtvolles Zelt geführt, wo ein fürstlich gedeckter Tisch auf ihn wartete. Voller Appetit labte er sich an süßen Früchten, knusprigem Braten und frischem warmen Brot. Danach ließ er sich noch Kuchen und dicke Sahne schmecken. Bei einem guten Tropfen Wein im Anschluss, erhielt er von den Ausbildern bereitwillig Antworten auf all seine Fragen.
Bevor er sich zur Ruhe begab, ließ er sich noch einmal zu den Quartieren der Knaben führen. Ihm fröstelte, sobald er das wärmende Zelt verließ. Im Gegensatz zu ihm würden diese Jungen die Nacht im Freien zubringen. In Isfadah war es tagsüber meist sehr heiß und nachts dagegen oft extrem kalt. Die jungen Draconen sollten vom ersten Tage an gegen Hitze und Kälte gleichermaßen abgehärtet werden. Später auch gegen Hunger und Durst. Doch das hatte noch ein wenig Zeit.
Farid suchte mit den Augen nach jenem Knaben, der als Letzter zugeführt worden war. Er fand ihn im Halbdunkel des Mondlichtes, in einer Ecke. Während viele der anderen sichtbar vor Kälte zitterten, biss sich dieser so hart auf die Unterlippe, dass etwas Blut hervortrat. Doch er war nicht der Einzige, dessen angeborener Stolz durch den Trank nicht beeinträchtigt war. Es gab noch eine Handvoll anderer Jungs, die sich nicht anmerken lassen wollten, dass ihnen die Kälte zu schaffen machte. Das waren ausgezeichnete Grundlagen, für eine vielversprechende Karriere, inmitten der Draconen. Farid wollte sich diese Gesichter merken und sich künftig, bei seinen jährlichen Besuchen, nach deren Werdegang erkundigen. Er war davon überzeugt, dass er sie eines Tages hoch zu Ross, in den Farben der Anführer geschminkt, wiedersehen würde. Dann endlich sollten sie für ihn, ihren König und Vater, ausziehen und seine Kriege gewinnen.
Sina
Die Nachricht, dass ihre liebste Schülerin nach Isfadah zurückgekehrt war, hatte Sina erst nach deren Tod erreicht.
An jenem schicksalhaften Abend hatte eine der jungen Wächterinnen an Sinas Tür geklopft. Sie hatte ihr mitgeteilt, dass ein Mann an der Pforte stand und sie dringend zu sprechen wünsche. Als Sina in ihm jenen Wärter erkannte, der Arko einst in ihrem Auftrag den Schlaftrank überbracht hatte, ließ sie ihn gewähren. Sie begaben sich an einen ungestörten Platz. Erst dann fragte sie nach dem Grund seines Kommens. Er erzählte ihr, was geschehen war. Sina wurde schwarz vor Augen. Nur seine schnelle Reaktion verhinderte, dass sie auf dem harten Steinboden aufprallte. Sie hatte an diesem Tag noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt, nach den Proben von Finea und dem Prinzen zu sehen. Die Nachricht erwischte sie also mit voller Härte. Als sie sich einigermaßen von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, ließ sie sich haarklein alles erzählen, was der Wärter ihr zu berichten hatte. Dann steckte sie ihm ein paar Münzen zu und entließ ihn dankend in die Nacht.
Bei ihrer Kontrolle stellte sie später jedoch überrascht fest, dass zumindest der kleine Ammon wohlauf war. Dieses dumme Mädchen! Warum hatte sie sich von dem Anschein täuschen lassen, der Junge wäre umgekommen? Sie musste doch gespürt haben, dass er noch am Leben war. Finea hatte zu früh aufgegeben.
Doch war das wirklich so? Letztendlich musste sich Sina eingestehen, dass es nichts geändert hätte, wenn Finea nicht zu diesem letzten, todbringenden Mittel gegriffen hätte. Niemand wäre dazu in der Lage gewesen, sie aus Farids Klauen zu befreien. Der einzige Unterschied hätte darin bestanden, dass sie statt eines sanften und schnellen Todes, einen qualvollen und langsamen gestorben wäre. Sie hatte das gewusst und war in der glücklichen Vorfreude gestorben, all ihre Lieben auf der anderen Seite wiederzufinden. Sina war sich sicher, dass Finea inzwischen mütterliche Gefühle für den kleinen