Sina wurde fast verrückt dabei, alle Varianten durchzugehen, die zu diesem Ergebnis geführt haben konnten. Was war passiert? War Arko vielleicht den Folgen eines Unfalls erlegen? Dann wäre Finea jetzt ganz auf sich gestellt und müsste sich allein um den Jungen kümmern. Dass es ihr dabei nicht besonders gut gehen mochte, wäre nachvollziehbar. Zumindest schien diese Erklärung sehr viel wahrscheinlicher als die schlimmste Version: Ihre Enttarnung. Oder war hier doch eher der Wunsch der Vater des Gedankens?
Irgendwie musste Sina Genaueres herausfinden. Dazu würde sie das Blutsiegel ab sofort doch täglich aufsuchen müssen, um häufiger nach den Proben sehen zu können. Wenn sie weiterhin stabil blieben, bestand die berechtigte Hoffnung, dass zumindest Finea und der Junge wohlauf waren.
Oder sollte sie ihr doch lieber einen Raben senden? Dann könnte ihn Finea mit einer Antwort zu ihr zurückschicken. Doch was, wenn Sinas Nachricht in falsche Hände geriet und sie damit ihre Schützlinge erst recht in Gefahr brachte? Sie hatten damals schließlich nicht ohne Grund vereinbart, dass Sina nur Kontakt zu Arko und Finea aufnehmen durfte, wenn sie die beiden vor einer ernsthaften Bedrohung warnen müsste.
Sie war wohl oder übel gezwungen abzuwarten, und Finea, ihrem klügsten und treuesten Zögling, zu vertrauen. Sie glaubte fest daran, dass die junge Frau durchaus in der Lage war, sich auch allein um Ammons Wohl zu kümmern. Inzwischen war er ja schon sechs Jahre alt und sollte aus dem Gröbsten heraus sein.
Wenn sich das Ergebnis allerdings weiter ins Negative verändern würde, musste sie sich dringend etwas einfallen lassen, um die beiden zu finden. Im Moment hoffte sie nur inständig, dass es nicht schlimmer wurde, als es bereits schon war. Ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Immer neue Szenarien tauchten vor Sinas innerem Auge auf. Keines war befriedigend. Egal, was auch immer geschehen sein mochte, eines stand fest: Die arme Finea musste sich sehr hilflos vorkommen, ohne Lord Arkos männliche Unterstützung.
Die Großpriesterin hoffte, dass die junge Wächterin im Ernstfall selbst einen Weg finden würde, um ihrerseits Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Routinemäßig kontrollierte sie noch alle anderen 'offiziellen' Proben. Dabei musste sie sich zum wiederholten Male eingestehen, dass sie bei der von Farid insgeheim auf eine Schwarzfärbung hoffte. Das entsprach absolut nicht ihrem Naturell, doch dieser Mensch schaffte es, auch in ihr dunkle Seiten zu erwecken. Erwartungsgemäß waren jedoch alle in einem tadellosen Zustand. Den Kopf voller Sorgen verließ Sina den geheiligten Ort und begab sich zurück in ihre Gemächer.
Farid
Endlich! Sie hatten die junge Blutwächterin in ihrer Gewalt. Zufrieden legte Farid das Papier mit der erfreulichen Botschaft auf den Tisch und griff nach der Weinkaraffe. Darauf musste getrunken werden! Genüsslich ließ er einen Schluck des guten Tropfens seine Kehle hinunterrinnen und lächelte, als er spürte, wie der Rebensaft seine Magenwände streichelte.
Schon am folgenden Tag wurden die Männer zurückerwartet, welche die rothaarige Hexe nach Isfadah brachten. Arko war tot. - Jetzt wirklich! Das Kind, ob es sich nun um seinen Neffen handelte oder nicht, war in den Flammen der brennenden Hütte umgekommen. Die Männer hatten sie in jener Nacht komplett umstellt und hätten definitiv gesehen, wenn auch nur eine Maus versucht hätte, das Gebäude zu verlassen. Dies bezeugte zumindest der Söldnerführer in seinem Schreiben. Auf den Mann war Verlass! Das hatte er Farid bereits in zahlreichen Situationen bewiesen. Wenn sie zurück wären, würde er sich die ehemalige Wächterin persönlich vornehmen und dazu bringen, ihm alles zu verraten, was sie wusste. Damit konnte er vielleicht gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Farid hasste Sina und ihren Tempel. Sollte die Großpriesterin in irgendeiner Form in diese Sache involviert sein - und das hielt er durchaus für möglich - würde er sie zur Verantwortung ziehen. Dann hätte er auch endlich etwas in der Hand, um sie und ihren elenden Tempel zu zerstören. Doch dazu brauchte er zuvor das Geständnis der Rothaarigen. Sina ohne ausreichende Beweise verhaften zu lassen, wäre, aufgrund ihres hohen Ansehens im Volk, nicht klug. Doch er sollte dieses Geständnis ganz sicher bekommen, dafür würde sein Folterknecht schon sorgen ... Farid wollte es genießen, dabei zuzusehen. Schon bei der Vorstellung schoss ihm das Blut in die Lenden ... Am Ende wartete unweigerlich das Schafott auf die schönen Wächterinnen. Auf beide! Sie würden, wegen Ausübung schwarzer Magie und Beihilfe zur Flucht, zum Tode verurteilt werden. Dafür müsste er allerdings öffentlich machen, dass sie Arko geholfen und damit Farid an der Nase herumgeführt hatten. Da diese Peinlichkeit von seinen Männern inzwischen jedoch erfolgreich bereinigt worden war, blieb der Schaden begrenzt. So wäre er mit einem Schlag alle Beteiligten an der Verschwörung gegen ihn los.
Die Sache mit dem vermeintlichen Kindertausch würde er nur im Stillen verfolgen. Es war eh nur eine vage Vermutung und wahrscheinlich vollkommen unbegründet. Der Knabe konnte ihm so oder so nicht mehr schaden und es würde nur schlafende Hunde wecken – und Ismee verwirren.
Wieder schlich sich ein überlegenes Lächeln auf seine Züge. Beschwingt, durch die positive Entwicklung in dieser Angelegenheit, beschloss er, Ismee in ihren Gemächern aufzusuchen.
Ein wenig Plauderei und ein anschließendes Schäferstündchen mit der Frau seiner Träume würden diesen Tag zu einem perfekten werden lassen.
Er fand sie auf ihrem Balkon. Sie trank, wie fast jeden Abend, Wein. Er interpretierte das so, dass sie ihr Leben an seiner Seite jetzt doch zu genießen verstand. Sie erfüllte Farids Bedürfnisse in jeglicher Hinsicht. Sie führte ausgedehnte Unterhaltungen mit ihm, trat in der Öffentlichkeit an seiner Seite vorbildlich auf und teilte bereitwillig mit ihm das Bett. Zwar wurde Farid des Öfteren auf Ismees Gesundheitszustand angesprochen, tat ihre Blässe aber mit einem ihr angeborenen hellen Teint ab. Sie unterstrich ihre zarte Eleganz und Farid fand das eher reizvoll als besorgniserregend. Zumal Ismee ihm immer versicherte, dass es ihr an nichts fehle.
„Farid, wie schön, dass du noch vorbeischaust!“, sagte sie leise und er übersah absichtlich die kleine Falte zwischen ihren Brauen, die dort für kurze Zeit erschienen war und ihre Worte Lügen strafte.
„Ich hatte Sehnsucht nach meiner schönen Gemahlin“, erwiderte er seinerseits wahrheitsgemäß. Er trat zu ihr und küsste ihre Hand. Als er mit seinen Lippen ihren Nacken berührte, bildete sich dort sofort eine Gänsehaut, die er als Bestätigung seiner Anziehungskraft auf sie wahrnahm. Zufrieden setzte er sich zu ihr.
„Möchtest du auch ein Glas Wein?“, fragte sie beflissen.
Er lehnte sich entspannt zurück. „Wie könnte ich die Einladung einer so schönen Frau ablehnen? Vielleicht lassen wir das als gemeinsamen Schlummertrunk gelten, denn ich habe nicht vor, dich danach wieder zu verlassen. In dieser Nacht möchte ich dich mit allen Künsten der Liebe verführen.“
Sie lächelte, schwieg jedoch und nickte nur zustimmend.
'Ja, sie freut sich ebenfalls darauf' , ging es ihm durch den Kopf. 'Sie ist nur von zu edler Natur, um über diese Dinge zu sprechen.'
Gemeinsam unterhielten sie sich über die kleinen Unwichtigkeiten des Alltags. Neben dem aktuellen Hofklatsch kamen auch Linas Probleme mit dem Hoflehrer zur Sprache, von dem sie seit Kurzem in allen wichtigen Dingen unterrichtet wurde.
Die Kleine war ein wahrer Wildfang. Immer fröhlich, aber auch schwer zu bändigen. Sie hatte einen ausgesprochenen Dickkopf. Der Lehrer hatte seine liebe Not mit ihr. Sie gehorchte ihm oft nicht und konzentrierte sich nicht gern auf Dinge, die zwar wichtig, aber in ihren Augen einfach zu langweilig waren. Mit ihrer ehrlichen, frischen und manchmal etwas frechen Art, brachte sie Leben ins Schloss. Ihr Faible für Kamir war noch immer nicht verschwunden. Er musste mittlerweile recht oft mit ihr und ihren Kuscheltieren die Teestunde verbringen. Es war für jeden Beobachter amüsant zuzusehen, wie Lina jede junge Dame an Kamirs Seite mit bösen Blicken durchbohrte. Und fast immer gelang es ihr, ihren großen Freund unter einem Vorwand von diesen Damen fortzulocken. Kamir konnte ihrem flehenden Blick einfach nicht widerstehen und ließ die ein oder andere Verehrerin frustriert zurück. Und gelegentlich krönte Lina ihren Sieg, indem sie der Verliererin noch unauffällig die Zunge herausstrecke. Natürlich wagte niemand, die Prinzessin