„Wer ist sie denn und woher kennst du sie?“, fragte er jetzt.
Kamir erzählte ihm von seiner Begegnung in der Therme. „Du hättest sie sehen sollen! Den Anblick vergisst ein Mann nicht!“, schwärmte er.
In diesem Moment hatte auch die schwarzhaarige Schönheit ihre Badebekanntschaft entdeckt und senkte beschämt den Blick. Doch als sie wieder kurz zu Kamir aufsah, meinte er, den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel zu erkennen.
„Hör auf, sie so unverblümt anzustarren!“, ermahnte ihn Lester. „Ihr Vater ist schon aufmerksam geworden und sieht nicht gerade begeistert aus.“
Nun bemerkte auch Kamir den angespannten Ausdruck auf dem Gesicht des Baumeisters. Er beschloss, ausnahmsweise einmal aus seiner Position einen Vorteil zu ziehen, und erhob sich von seinem Platz. „Er wird sicher gleich zufriedener aussehen“, murmelte er noch, bevor er den Tisch verließ und unter den ungläubigen Augen Lesters zu der unbekannten Schönen hinüberschritt.
Dort angekommen, machte Kamir eine höfliche Verbeugung. „Darf ich Euch und die bezaubernden Frauen Eurer Familie am Hofe meines Bruders begrüßen? Ich nehme an, Ihr hattet noch nicht die Gelegenheit zu einer Audienz beim König, da er im Moment sehr beschäftigt ist.“
Dem Vater seiner Angebeteten war anzumerken, dass der junge Mann ihm plötzlich deutlich sympathischer geworden war. Seiner Gemahlin sah man ebenfalls an, wie sich vor ihrem inneren Auge eine Chance auftat. Schnell schob sie ihre Tochter nach vorn, während ihr Mann Kamir seine Familie vorstellte: „Mein Name ist Alesto Zorban, der neue Baumeister des Königs. Dies ist meine Gemahlin Amanda und das ist meine Tochter Sarah.“
Und schon hatte Kamir seine Informationen. Er gab beiden Damen einen formvollendeten Handkuss und sah Sarah lange genug in die Augen, um der Mutter ein zufriedenes Lächeln zu entlocken, bevor er sagte: „Solltet Ihr irgendwelche Hilfe benötigen oder jemanden, der Euch herumführt, dann wendet Euch vertrauensvoll an mich!“
Der Baumeister dankte ihm höflich und seine Frau beteuerte, dass sie ganz sicher von seinem Angebot Gebrauch machen würden. Damit entfernte er sich wieder und kehrte zu seinem Platz zurück. Das Ganze war natürlich nicht unbeobachtet geblieben und an den meisten Tischen wurde schon heftig getuschelt.
„Du hast gerade etwa zwanzig Herzen gebrochen und deiner Angebeteten ebenso viele Todeswünsche verschafft“, eröffnete ihm Lester grinsend, als er sich setzte.
„Wir müssen alle mit den grausamen Enttäuschungen und Risiken des Lebens umgehen lernen“, stellte Kamir nur sachlich fest und begann endlich mit seiner Mahlzeit.
Farid
Der König von Isfadah vertrieb sich keineswegs die Zeit bei der Jagd, womit er seine Abwesenheit offiziell begründete. Wie immer in den letzten Jahren benutzte er diese Ausrede auch jetzt, als er sich auf den Weg zum geheimen Draconenlager machte. Endlich konnte er selbst Zeuge jenes Rituals werden, währenddessen neue 'Rekruten' erschaffen wurden. Schon lange hegte er den Wunsch, einmal anwesend zu sein, wenn die Knaben ihren ersten Vergessenstrank bekamen - und 'wiedergeboren' wurden. Er wollte miterleben, was in jenem Moment geschah, in dem sie ihr bisheriges Leben und damit auch ihre Ängste und Sehnsüchte vergaßen. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie sie zu leeren Hüllen wurden, die sich, mit seinen Ideologien gefüllt, bedingungslos der harten und zuweilen grausamen Ausbildung stellten. Da Farid nicht so viel 'Material' zur Verfügung stand wie einst seinen Vorgängern, hatte man die gefährlichsten Teile des Trainings gestrichen. Zu hoch waren früher die Verluste gewesen. Diese Knaben wurden auch so um ein Vielfaches besser, als es normale Soldaten waren.
Zunächst führte man den König durch die Trainingsbereiche der älteren Draconen.
Da es in deren Köpfen kein Leben vor der Zeit im Lager gab, ordneten sie ihr Lebensalter den Jahren ihrer Ausbildung zu. Wenn Farid also einen der ältesten Knaben fragte, wie alt er sei, dann antwortete dieser ohne Umschweife: „Sechs Jahre, mein König und Vater.“ In Wirklichkeit war der Junge jedoch zwölf oder dreizehn. Die Körper der künftigen Krieger sahen deutlich männlicher aus als die ihrer Altersgenossen in Freiheit. Sie waren schon jetzt mit Muskeln bepackt, von denen manch erwachsener Mann nur träumen konnte. Sie beteten Farid regelrecht an. Für sie war er eine Art Gott und Vater in einem. Das Wenige an guten Eindrücken und Gaben, die die Kinder hier erhielten, wurde von den Ausbildern immer mit Farid in Verbindung gebracht. So stand er von Beginn an als die Personifizierung des Guten in der Welt da, das man behüten musste und wofür es sich zu sterben lohnte. „Euer Essen schenkt euch der König. Eure Kleidung, dieses Zuhause!“, erinnerte sie ständig jemand. Und immer wenn einer der Knaben gelobt wurde, was selten genug vorkam und bedeutsamer Leistungen bedurfte, wurde Farid erwähnt. Am Ende eines jeden Ausbildungsjahres wurden die zwei Besten des Jahrgangs mit einer kunstvoll geschmiedeten Waffe belohnt. Diese trugen sie mit geschwollener Brust, unter den anerkennenden und auch neidvollen Blicken ihrer Mitstreiter.
Doch der überwiegende Teil des Draconenlebens bestand aus Entbehrung, Schmerz, Aufopferung und Kälte.
Farid sah sich zufrieden um, während ihm die Ältesten ihr Können präsentierten. Als er einen etwa zwölfjährigen Jungen zum Zweikampf forderte, war ihm schnell klar, dass er diesem Kind gnadenlos unterlegen wäre, sobald es sein ganzes Können zum Einsatz brächte. Was würde das für eine Armee werden! In vier bis fünf Jahren wären die ersten Regimenter einsatzbereit. Hunderte junge kräftige Männer, die für einen Durchschnittskrieger nahezu unbesiegbar waren!
Im Geiste sah er sich schon zum Herrscher über die gesamten Königreiche des Südens werden.
„Hoheit, die Zeit des ersten Trankes ist gekommen!“, kündigte einer der Ausbilder nun an.
Farid und seine Begleiter folgten dem Mann an den Rand des Lagers. Die unfreiwilligen Anwärter wurden jenseits der hohen Umzäunung festgehalten, die das Draconenlager vor neugierigen Blicken schützten sollte. Es war inmitten eines Waldes errichtet worden. Die Stämme der extra dafür gerodeten Bäume hatte man dicht an dicht vertikal in den Boden gerammt. Um Schaulustige fernzuhalten, wurde das Gerücht von reißenden Tieren und verwunschenen Ungeheuern unter die Leute gebracht. Die Wenigen, die sich dennoch in das Dickicht hineintrauten, wurden von Wachen vertrieben, die angeblich gerade eines jener Untiere jagten … oder man brachte die Ahnungslosen einfach um. Der Plan schien aufzugehen, denn bisher hatte noch niemand das Lager entdeckt.
Dennoch kursierten in den Schankstuben schon die ein oder anderen vagen Vermutungen. Natürlich war das Verschwinden der Knaben nicht ganz unbemerkt geblieben. Als Farid von den Gerüchten hörte, hatte er sofort Spitzel ausgesandt, die sich unter das Volk mischten. Sie bedrohten jene, die die Wahrheit aussprachen derartig eindrucksvoll, dass die Unglücklichen künftig nie wieder ein Wort darüber verloren.
Farid nahm es jedoch gelassen. Er war sich sicher, dass all die dummen Schwätzer seinen siegreichen Kriegern voller Stolz zujubeln würden, sobald diese die ersten Siege für Isfadah errungen hätten.
Durch ein Tor im Zaun gelangten sie nach draußen. Dort stand eine größere Hütte auf einer Lichtung. Sie traten ein. In ihrem Inneren war es stickig und düster. Dutzende Knaben saßen verängstigt und dicht an dicht auf dem Boden. Farid meinte, den Geruch von Urin zu vernehmen. Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bemerkte er, dass die Kinder aneinandergekettet waren. Einige weinten leise, andere versuchten tapfer zu sein. Wenn sie erst den Trank des Vergessens eingenommen hätten, würden derartige Vorkehrungen nicht mehr von Nöten sein. Abgesehen davon, dass man nur schwer aus dem Lager ausbrechen konnte, würden sie es nicht einmal versuchen. Für diese Kinder gab es dann kein 'draußen' mehr. Nichts wonach sie sich sehnten, nichts was sie vermissen würden. Es gab nur