Der Meerkönig. Balduin Möllhausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Balduin Möllhausen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754176504
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Hüter seiner Heerde,« sagte sie sodann, sichtbar geschmeichelt durch die von Herrn Seim gewählte Eingangsform. »Und dabei so bedacht auf die Wünsche seiner Mitmenschen - ja, Herr Seim, Sie haben ganz Recht, das Wohl Ihrer armen, unschuldigen Pflegebefohlenen liegt mir in der That sehr am Herzen, und da ich gekommen bin, um mich nach dem unglücklichen, mißrathenen Mädchen zu erkundigen, so ist Ihr freundliches Schreiben überflüssig geworden. Aber ich errathe schon, eine tröstliche Kunde ist es nicht, die Sie mir mitzutheilen haben,« schloß die Geheimeräthin, als sie sah, daß der Vorsteher mit einem trüben Blick nach oben die Hände faltete.

      »Leider noch gar keine Kunde, meine gnädigste Frau!« preßte er endlich heraus, indem er den Kopf etwas abwendete, um die verrätherischen Thränen in seinen Augenwinkeln zu verbergen. »Nein, leider bis jetzt noch gar keine! Ich hoffe indessen zu Gott, daß meine Bemühungen und die Forschungen, welche man nach dem kleinen Flüchtlinge anstellt, von Erfolg gekrönt werden; denn, Frau Geheimeräthin, gerade weil es mir schon so unendlich viel Mühe und Sorge bereitet hat, ist mir das Kind doppelt theuer geworden. Aber darf ich bitten, meine gnädige Frau!« fügte er im verbindlichsten Tone hinzu, indem er einen Stuhl vor dem runden Tische zurecht schob und demnächst, wie erschreckt und beschämt über den Anblick seines kärglichen Frühstücks, eine bereit gehaltene Serviette über Teller und Glas deckte.

      Die Frau des reichen Bankiers besaß Freundlichkeit genug, sich zu stellen, als ob sie den Inhalt des Glases und die Reste des Butterbrötchens nicht bemerkt habe, obwohl die Aermlichkeit des Mahls ihr ein billigendes und bedauerndes Lächeln entlockte.

      Mit Hülfe des Vorstehers legte sie darauf ihren kostbaren Zobelpelz ab, und nachdem sie sich mit vornehmer Haltung auf den dargebotenen Stuhl niedergelassen, nahm Herr Seim ihr gegenüber, jedoch in angemessener Entfernung, Platz.

      »Also keine Nachricht?« wiederholte die Frau Geheime Commissionsräthin mit einem tiefen Seufzer. »Es ist entsetzlich, zu bedenken, daß das arme, unglückliche Wesen vielleicht vor Kälte in dem gräßlichen Schneewetter umgekommen ist.«

      »Entsetzlich, meine gnädige Frau!« pflichtete Herr Seim fast tonlos bei, denn der biedere, menschenfreundliche Mann war so tief bewegt, daß er, um seine Schwäche nicht zu sehr zur Schau zu tragen, mit einem sauberen, weißen Taschentuche flüchtig über seine Augen hinfahren mußte. »O, Sie glauben nicht, wie sehr das Geschick des Kindes - ich habe seine großen Anlagen zum Bösen ja längst vergessen - mir zu Herzen geht! Kein Auge habe ich seit seinem Entweichen geschlossen, und meine Tochter, das weichherzige Kind, leidet nicht minder unter dem Eindruck der schrecklichen Begebenheit!«

      »Aber sagen Sie, bester Herr Seim, war das Kind wirklich so bös geartet? Ich hörte, es habe eine unbesiegbare Neigung zum Verleumden und zum heimlichen Aneignen fremden Gutes in ihm gelegen.«

      »Hoffentlich liegt sie noch in ihm,« versetzte Herr Seim schnell, und ein unbeschreiblicher Ausdruck freudiger Zuversicht spielte auf seinem wohlwollenden Antlitz, indem er das Kinn bis fast an den Rand der weißen Halsbinde zurückzog. Ja, meine gnädige Frau, ich sage, ›hoffentlich‹, weil ich mich mit dem Gedanken, das Kind auf so schreckliche Art verloren zu haben, nie würde vertraut machen können. Haben wir das Kind aber erst wieder, so gelingt es mir auch mit Gottes Hülfe und mit weiser Strenge, seine Unarten gänzlich zu überwinden.«

      »Gebe Gott seinen Segen zu Ihrem frommen Beginnen, mein bester Herr Seim! Allein Stehlen, gerade heraus zu sprechen, ist doch wohl etwas mehr, als eine bloße Unart. Es ist überhaupt merkwürdig, wie sich bei den Kindern der niederen Stände, ja, sogar bis zum Mittelstande hinauf die schmachvollsten Laster bereits im Jugendalter so zahlreich vertreten finden.«

      »Gewiß ist es merkwürdig, meine gnädigste Gönnerin,« entgegnete Herr Seim zuvorkommend, während seine Blicke bewundernd an den geschminkten Zügen der Bankiersfrau hingen, »und dennoch wieder ganz natürlich, wenn man berücksichtigt, daß das Beispiel der Eltern nothgedrungen auf die Kinder einwirken muß. Deshalb sehen wir auch täglich, wie die Sprößlinge der Arbeiter sich bereits frühzeitig im Pfuhle des Lasters wälzen, die Nachkommen des übermüthigen Mittelstandes sich in Lug und Trug üben, während die Kinder hochgeborener und wahrhaft vornehmer Herrschaften schon im zartesten Jugendalter nicht nur durch unnachahmliche Anmuth, sondern auch durch wahrhaft edle Gesinnungen alle Herzen für sich einnehmen.«

      »Ja, ja, mein lieber Herr Seim,« versetzte die Frau Commissionsräthin, mit der Miene einer bescheidenen Dulderin dem Vorsteher die Hand zum Kusse darreichend, »der Herr in seiner unbegreiflichen Weisheit und Güte hat Alles zum Besten eingerichtet - aber wie war es mit dem Kinde? Durch seine Flucht, die unbedingt auf keinen besonders guten Charakter deutet, ist meine ganze Neugierde auf dasselbe hingelenkt worden; woher stammt es und wie weit ist es in Ihrer Anstalt mit der Ausübung seiner angeborenen Sünden gegangen?«

      »Ach, gnädigste Frau, wenn ich nur wüßte, woher das bedauernswerthe kleine Geschöpf stammt!« antwortete Herr Seim, sein biederes Antlitz mit einer neuen anmuthigen Kinnbewegung verlegen zur Seite wendend, als ob er befürchtet habe, durch weitere Mittheilungen das keusche Ohr seiner Gönnerin zu verletzen; »recht viel läßt sich wohl über sein Herkommen denken, aber - aber nur sehr wenig sagen.«

      »Gewiß fehlt ihm - nun - mein bester Herr Seim, Sie sind ein verheiratheter Mann ...«

      »Gewesen, gnädigste Frau, leider nur zu kurze Zeit gewesen,« wagte der Vorsteher die Commissionsräthin mit bebenden Lippen zu unterbrechen, während sein Taschentuch nach den beiden feuchten Augenwinkeln fuhr.

      »Armer Mann, Sie sind wenigstens Familienvater,« verbesserte sich die Commissionsräthin, »und das ist hinlänglich, um die Schranke der Etiquette, die entgegengesetzten Falles zwischen uns bestände, zu lüften. Doch um auf das Kind zurückzukommen, es fehlt ihm also der Vatersname?« schloß sie, und in ihrer nach vorn geneigten Haltung und den ungewöhnlich weit geöffneten schwarzen Augen sprach sich die außerordentliche Theilnahme aus, welche sie für die interessante Geschichte des Kindes hegte.

      »Es fehlt ihm nicht nur der Name des Vaters, sondern auch der Name der Mutter,« antwortete Herr Seim in Folge der an ihn gerichteten Aufmunterung kühner und entschiedener; »es wurde nämlich vor neun Jahren als kleines, etwa zweijähriges hülfloses Wesen von unbekannten Händen unserer Anstalt übergeben. Eine unerhebliche Geldsumme, kaum ausreichend, es zweckmäßig einzukleiden, begleitete es, und auf das dürftige Jäckchen, welches es trug, war ein Zettel mit dem Namen Elisabeth festgesteckt worden.«

      »Und den Ueberbringer haben Sie nicht gesehen?«

      »Niemand hat ihn gesehen; wir entdeckten den Korb, der das Kind barg, zur späten Abendstunde auf unserer Hausflur, und da alle Nachforschungen nach der Mutter vergeblich blieben, mußten wir den kleinen Findling schlechterdings behalten. Aber ich that es gern, meine gnädige Frau, sehr gern, schon allein des flehenden Ausdruckes wegen, mit welchem das junge Leben zu mir emporschaute,« fügte Herr Seim mit einer bekräftigenden Kinnbewegung und dem biedern Faltenwurf um seinen Mund hinzu; »auch meine Juliane, damals selbst noch ein Kind - in der That, ihrem Wesen nach, heute noch ein Kind, und zwar ein braves, dankbares Kind -, bestand darauf, lieber weniger nach den unbekannten Eltern zu forschen und dafür etwas mehr Sorgfalt auf den kleinen Gast zu verwenden - und so geschah es auch. Trotz seiner Kränklichkeit und übergroßen Schwäche gedieh das Kind doch zusehends unter der besondern Aufsicht meiner Juliane. Es würde auch jetzt noch unter ihren Händen gedeihen, wenn nicht ein stark hervortretender Zug von Eigensinn, Unredlichkeit und Verstocktheit das Kind ihrem Herzen entfremdet hätte. Strenge Zucht mußte an Stelle der Liebe treten; aber auch damit richteten wir nichts aus. Die Fälle von Unredlichkeit wiederholten sich häufiger und beschränkten sich zuletzt nicht mehr darauf, daß das Mädchen sich an dem Eigenthum seiner Mitschülerinnen vergriff, sondern sogar ...«

      »Sogar?« fragte die Commissionsräthin gespannt, als Herr Seim mit einem tiefen Seufzer, dem Ausbruche seiner Wehmuth, schwieg.

      »Das arme Kind ist vielleicht schon todt,« antwortete Herr Seim leise, wie zu sich selbst sprechend, »und den Todten soll man nichts Uebles nachsagen, selbst auch dann nicht, wenn sie es verdienen.«

      »Sprechen Sie, mein guter Herr Seim,« munterte die Commissionsräthin auf; »warum mit der Wahrheit zurückhalten,