Der Meerkönig. Balduin Möllhausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Balduin Möllhausen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754176504
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aufzustellen, daß sie viel schöner aussehen. Ach, wie glücklich könnten wir leben, wenn ...«

      »Das war also Mariens Geschichte,« fiel Reichart seiner Frau schnell ins Wort, denn er hatte instinctartig herausgefühlt, daß deren künstlich eingeschläferter Kummer im Begriffe stehe, wieder laut auszubrechen; »ich habe Dir Alles erzählt, so gut ich es selbst wußte. Nun erinnere aber auch Du Dich Deines Verspechens und laß Dich nicht hinreißen, mit der armen Marie über ihre Vergangenheit zu sprechen. Man muß zufrieden sein mit dem neuen Kummer und nicht alten auffrischen, indem man unheilbare Herzenswunden anrührt. Die Marie hat mehr ertragen, wie tausend und tausend Menschen zu tragen auferlegt wird, und sie verdient nicht, daß man sie immer wieder von Neuem quält. Schlimm genug, daß ihr Leid ein solches ist, von welchem sie nur der Tod dereinst befreien kann, ja, nur der Tod - die arme, arme Marie! Aber Mutter, nun folge auch meinem Rathe, lege Dich zu unserem neuen Lieschen auf das Bett und versuche, eine Stunde zu schlafen. Auch ich bin müde und erschöpft; ich werde mich neben den Ofen setzen; die Lampe kann ja brennen bleiben.«

      »Die arme, arme Marie!« wiederholte die Bäuerin leise, indem sie sich erhob; dann schritt sie langsam nach dem Himmelbette hin.

      Eine Weile betrachtete sie das in dem Dämmerlichte nur undeutlich hervortretende schlummernde Kind mit traurigen Blicken. Die Thränen, die so lange zurückgehalten werden waren, hatten sich wieder Bahn gebrochen; aber sie flossen mild und das bedrückte Herz erleichternd. Mechanisch zog sie ihr Oberkleid aus, und mit angehaltenem Athem legte sie sich hart an den Rand der knarrenden Bettstelle oben auf die Kissen.

      Das Kind schlief ruhig weiter; das eigenthümliche Geräusch vermochte nicht, in seinen Schlummer einzubringen. Eben so schlief es ungestört weiter, als die bekümmerte Mutter sein ihr zunächst befindliches Händchen ergriff und in ihrer eigenen Hand barg. Aber auch die Mutter athmete allmählich ruhiger und regelmäßiger. Die Berührung des Händchens, in welchem das Blut so lebenswarm kreiste, wirkte wohlthätig auf sie; die Lider sanken schwer über die vom Kummer getrübten Augen hin, und gleich darauf waren vergessen des Lebens Qualen und Sorgen.

      Stiller wurde es in dem Gemache; verschlafen tickte die Uhr, verschlafen nahmen sich die Gypsfiguren, die Aepfel und namentlich das weiße Kaninchen aus. Selbst das altmodische Spind mit den Tassen und Kannen, dem dürren Blumenstrauße und den beiden schielenden Pfauenaugen erhielt durch den Einfluß der matten Beleuchtung und der nur durch ruhige Athemzüge, heiseres Uhrticken und klingenden Heimchenruf unterbrochenen Stille einen gewissen äußeren Charakter der Uebermüdung. Die warme Stubenluft schien mit Traumgebilden angefüllt zu sein, die sich hier und dort auf geschlossene Augen senkten und sich demnächst innig an die Herzen anschmiegten. Und liebe, freundliche Bilder waren es gewiß, denn das schlummernde Lieschen lächelte beseligt; über das abgehärmte Antlitz der Bäuerin flog ein glücklicher Schimmer, während ihre Hand sich fester um das Händchen schloß, und die in dem Lehnstuhle ruhende derbe Gestalt des Hausherrn zeigte wieder ihr alte Kraft und Zähigkeit.

      Die arme, arme Marie in der kalten Kammer! Sie schlief nicht, sie träumte nicht, eben so wenig wie das todte Lieschen neben ihr. Und dennoch zogen auch vor ihrem Geiste mancherlei Bilder vorüber, aber Bilder, die den sich verstohlen nähernden Schlummer schnell wieder verscheuchten; traurige Bilder der Vergangenheit, frisch belebt durch den Anblick der kleinen, stillen Leiche; traurige Bilder, bald die guten, treuen Augen, die trostlos in das glimmende Lämpchen starrten, mit Thränen verschleiernd, bald der wunden Brust einen schmerzlichen Seufzer entwindend - die arme, arme Marie!

      4. Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht.

      War das ein schöner, frischer, sonniger, jedoch bitter kalter Morgen nach dem heftigen Schneefall! Seinen ganzen Vorrath an Flocken hatte der Himmel ausgestreut, und nicht so viel zurückbehalten, wie erforderlich gewesen wäre, um auch nur auf ein Viertelstündchen die lustigen Müllerburschen sich in der Luft schlagen oder die Engelein ihre Federbetten ausschütten zs lassen. Dafür lag aber auch ein unendlicher Schneereichthum auf der Erde, auf den Dächern und sogar auf den allerdünnsten Zweigen, so daß die Menschen förmlich waten mußten und die Vögel, vor allen aber die verdrießlichen Krähen, nicht wußten, wohin sie sich setzen sollten, ohne ihre Füße zu erkälten.

      Die Schuljugend dachte allerdings anders; die scheute sich nicht vor nassen und kalten Füßen, so lange ihrer noch daheim eine sorgliche Mutter harrte. Sie freute sich über den vielen, vielen Schnee und bedauerte nur, daß es so grimmig kalt sei, in Folge dessen der Schnee nicht ballte und sich nicht zum Bau von Männern und noch weniger zu Kriegsmaterial eignete.

      Ja, kalt war es wirklich ganz grimmig. Die Leute auf den Straßen sahen aus, als ob sie alle Cigarren rauchten, so dampfte der Athem; die Rauchsäulen, welche sich den Tausenden von Schornsteinen entwanden, erschienen so blau, so massig und dicht, als hätten lauter Pflastersteine aus ihnen geschnitten werden können, und doch spielte der leise Morgenwind mit ihnen eben so willkürlich, als mit dem Athem der Milchmädchen und Bäckerjungen und dem Tabaksdampfe, den hier die durchgefrorenen Marktbauern ihren kurzen, braun gebrannten Pfeifenstummeln entlockten, dort die rothnäsigen Straßenkehrer aus ihren selbstmörderischen Cigarren mit einem sprechenden Ausdrucke des Wohlbehagens von sich bliesen.

      Auch in den Stuben merkte man, daß es draußen recht kalt war. Sogar in dem wohlgeheizten, sonst aber sehr anspruchlos und einfach eingerichteten Geschäftszimmer des liebenswürdigen und wohlwollenden Herrn Seim, des Vorstehers der weit und breit berühmten Waisen-Anstalt, konnte man ganz bequem und ohne sich den Schnupfen zu holen, den plötzlichen Umschlag des Wetters genau beobachten.

      Der Frost hatte nämlich die Scheiben der beiden großen, nach dem Vorhofe hinaus liegenden Fenster so dicht mit wunderbar schönen Eisblumen, Sternen, Guirlanden und Arabesken überzogen, daß es des längeren Hinhauchens auf ein und dieselbe Stelle bedurfte, um ein thalergroßes Fleckchen durchsichtig zu machen und durch dieses die auf dem Hofe fleißig mit Schneeschaufeln beschäftigten Arbeiter, selbst unbeachtet, beaufsichtigen zu können.

      Die prahlerischen Eisdecorationen beeinträchtigten indessen in keiner Weise die mit der gediegenen Einfachheit in lobenswerthem Einklange stehende Wohnlichkeit des Zimmers; im Gegentheil, sie contrastirten gar anmuthig zu dem dumpfen Poltern, mit welchem der Luftzug die Flammen des verschwenderisch gespaltenen Buchenholzes in die Züge des majestätischen weißen Kachelofens hineintrieb, und nicht, minder anmuthig zu dem süßen Dufte, welchen das auf die eiserne Platte der Ofenröhre gestreute Königs-Räucherpulver verbreitete. Der weiß gescheuerte Fußboden war außerdem sehr sauber gefegt; die rohrgeflochtenen Stühle standen gerade und symmetrisch an den Wänden vertheilt; die großen Contobücher auf dem hohen Schreibtische reihten sich wie lauter Parade-Soldaten an einander; der ledergepolsterte Drehschemel vor dem Schreibtisch spreizte gravitätisch seine klobigen Beine, welche der massiven Schraube zum Halt dienten, und dabei schaute das Portrait des Landesfürsten, welches der Eingangsthür gerade gegenüber an der Wand hing, so vergnüglich durch einen darüber gehangenen patriotischen Lorbeerkranz in das Gemach hinein, daß es eine wahre Freude gewährte und man sich unwillkürlich und ohne ihn vorher gesehen zu haben, im Geiste mit dem Manne befreundete, der, trotz der bescheidenen Mittel, seiner Umgebung einen so freundlich einladenden Charakter zu verleihen verstand.

      Und dennoch, was war das Gemach im Vergleich mit dem Herrn Seim selbst, als dieser an jenem strahlenden Wintermorgen in demselben bedächtig auf und ab schritt, bald vor dem einen Fenster stehen blieb, um durch die in das Eis gehauchte Oeffnung das draußen befestigte Thermometer und die schneeschaufelnden Leute zu beobachten, bald einige Stücken Holz aus dem neben dem Ofen befindlichen Korbe nahm und in die Gluth schob? Nichts, gar nichts war das Gemach im Vergleich mit dem rechtschaffenen Herrn Seim, höchstens gut genug, um als Hintergrund zu der stattlichen Figur des vortrefflichen Herrn Vorstehers zu dienen.

      Obgleich noch früh am Tage, prangte Herr Seim, gemäß einer alten, löblichen Gewohnheit, bereits im schwarzen Leibrocke, überhaupt in ganz schwarzem Anzuge und weißer Halsbinde, also in einer Bekleidung, die nicht nur seiner ernsten Stellung als Hirte einer vom Verderben erretteten Jugend, sondern auch seiner übrigen äußeren Erscheinung vollkommen entsprach und die Würde derselben wo möglich noch erhöhte.

      Nicht über die