Weihnachtsmärchenwald. Verschiedene Autoren. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verschiedene Autoren
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754924617
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ihr könnt es euch schon denken, liebe Leser und Leserinnen. Als nämlich der Schutzmann kam, wurde es ihm etwas unheimlich zumute, er drängte sich durch die Menschen, und ehe er davonlief, wandte er sich um und rief die abscheuliche Lüge aus. Der Schutzmann hatte Lenchen ergriffen und zog sie bis zur nächsten Gaslaterne. Sie wußte nicht wie ihr geschah, ja sie begriff nicht, was der Mann von ihr wollte.

      Zitternd am ganzen Körper stand das Kind da, und als er sie auch anfuhr: „Wo hast du den Geldbeutel, – heraus damit!“ konnte sie vor Schreck nicht antworten.

      „Nun, wird's bald, oder soll ich helfen?“ rief er ungeduldig und griff ohne Umstände in Lenchens Tasche.

      „Was ist denn das hier?“ fragte er und hielt ihr den Geldbeutel dicht vor die Augen.

      Leichenblaß stand Lenchen da und starren Auges blickte sie aus denselben hin.

      „Nun, ist das dein Geldbeutel, kleine Diebin?“ schrie er sie an. „Antworte!“

      Lenchen schüttelte den Kopf, mühsam brachte sie die Worte hervor: „Ich habe keinen.“

      „Du hast keinen? Wie kommt denn der in deine Tasche, he? Er ist wohl hineingeflogen?“

      „Ich weiß es nicht,“ jammerte das Kind, „ich habe ihn nicht genommen – nein, nein, gewiß nicht!“

      „Das kennt man schon. Ihr Diebsgesindel seid alle unschuldig,“ sagte der Schutzmann. Dabei hatte er den Geldbeute! geöffnet und nun entdeckt, daß derselbe leer war.

      Die bestohlene Frau, die dicht neben ihm stand, fing bei dieser Entdeckung aufs neue zu jammern an. Sie stürzte sich auf das Kind, als ob sie es zerreißen wollte.

      „Willst du gleich sagen, wo du das Geld gelassen hast, du nichtsnutziger Balg?“ schrie sie in höchster Wut und schüttelte das arme Lenchen hin und her.

      Der Schutzmann hielt mit Mühe die Frau zurück, sie wäre imstande gewesen, dem Kinde ein Leid anzutun.

      „Vielleicht hat sie es noch in der Tasche stecken,“ sagte er und griff noch einmal hinein. „Richtig, da klimpert es ja. Na, viel ist es nicht,“ fuhr er fort, und zog Lenchens wohlverdienten Lohn hervor, „aber doch etwas. Nun werden wir das übrige schon auch noch finden. Dreißig Pfennig,“ zählte er, „wo hast du das andere gelassen? Hast es deiner Mutter gegeben? Sie stand wohl hinter dir, ja? – Sag's nur, Mädchen, dein Lügen hilft dir nichts. Oder sollen wir dich einstecken?“ fuhr er sie an. „Ins Gefängnis bringen zu Ratten und Mäusen?“

      Die Drohung des Schutzmanns brachte das Kind zur Verzweiflung.

      „Mutter, Mutter,“ schrie es herzzerreißend, „hilf mir doch! Ich habe nichts gestohlen, – nein, nein! Meine liebe, liebe Mutter, ich will zu dir! Lassen Sie mich zu meiner Mutter,“ bat sie flehentlich und rang die Hände, “sie weiß, daß ich nichts genommen habe! Ich habe noch nie – nie etwas genommen.“

      „Hör auf mit deinem Geheul, Mädchen, jetzt ist es zu spät damit. Vorwärts, marsch auf die Wache!“ Mit diesen Worten faßte der Schutzmann das Kind fest am Arme.

      „Macht Platz!“ rief er den Leuten zu, die wie eine dichte Mauer die Gruppe umstanden. Langsam traten sie auseinander und Schritt für Schritt ging es vorwärts.

      „So ein kleiner Knirps stiehlt schon!“ rief eine Frau, als Lenchen an ihr vorüberschritt. „Eine tüchtige Tracht Prügel wäre das beste für solche Brut,“ setzte eine andre hinzu, „dann würde sie das Stehlen schon lassen.“

      In ihrer Todesangst hörte und sah Lenchen nichts. „Mutter, sie bringen mich ins Gefängnis,“ wiederholte sie unaufhörlich, und es war, als ob ihre Gedanken sich darüber verwirrten. Mechanisch ergriff sie den Tannenbaum, denn bei all ihrem Herzeleid vergaß sie nicht, daß sie denselben abliefern mußte.

      „Wo hast du den Baum her?“ fragte plötzlich der Schutzmann, als er sah, daß derselbe sich mit Lenchen in Bewegung setzte. „Ist er dir auch zugeflogen oder vielleicht in die Hand gewachsen?“

      Die Umstehenden lachten noch über seinen Witz und er stimmte ein.

      „Wo du den Baum her hast?“ wiederholte er, da Lenchen schwieg.

      „Der Herr Geheimrat hat ihn gekauft,“ brachte sie unter Schluchzen mühsam hervor.

      „Wie heißt dein Herr Geheimrat?“ fragte er spottend.

      Ja, das wußte Lenchen nicht zu sagen, sie wußte nur, daß Geheimrats in dem ersten Stock in dem schönen, großen Eckhause wohnten und daß Karoline ihre Köchin war. Ihren Namen hatte sie niemals gehört.

      „Bist du taub, Mädchen?“ fragte der Schutzmann ungeduldig.

      „Wie heißt dein Geheimrat?“

      „Ich weiß es nicht,“ stotterte sie.

      „Aha, da haben wir die Bescherung! Ihr Diebsvolk habt alle so einen unbekannten ›Herr Niemand‹ zu eurem Helfershelfer! Mach keine Umstände, Mädchen, du hast ihn so gut gestohlen, wie den Geldbeutel.“

      Es wäre eine Kleinigkeit für Lenchen gewesen, dem Manne zu sagen: „Hier, hier ist der Baum gekauft!“ denn gar nicht weit von ihr stand die Frau, die es bezeugen konnte, – aber in ihrer Verwirrung achtete sie nicht daraus, und die Verkäuferin sah wohl ein Gewirr von Menschen, aber von dem Kinde konnte sie nichts erkennen. Erst als der Zug vorüber war, hörte sie von ihrer Nachbarin, daß ein Mädchen zur Wache gebracht wurde mit einer großen Tanne in der Hand. Sie habe Geld gestohlen und den Baum auch. –

      Während das arme Lenchen nach der Polizeiwache gebracht wurde, saß Frau Braun zu Hause und nähte Stich für Stich, ohne aufzusehen. Die Zeit verging ihr so schnell bei der fleißigen Arbeit, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie das Kind über die Zeit fortblieb. Sie dachte auch gar nicht daran, daß ihrem Lenchen, das seit ihrer Krankheit so pünktlich und gewissenhaft alle kleinen Ausgänge und Aufträge besorgte, etwas zugestoßen sein könnte.

      Aus ihrer Ruhe wurde sie plötzlich durch Karoline aufgeschreckt, die sie unten an der Treppe laut beim Namen rief.

      „Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn Sie nicht leuchten! Es ist schlimm genug, daß ich Ihre Himmelsleiter zum zweitenmal raufklettern muß. Wo bleibt denn die Lene? Sie kann doch nicht mehr unterwegs sein? Unser Fräulein und ihr Bräutigam warten auf den Baum, sie wollen ihn ja heute noch schmücken.“

      „Ist es denn schon so spät, Karoline?“ fragte ängstlich Frau Braun.

      „Na, nun hört doch alles auf! Haben Sie denn keine Uhr schlagen hören? Der Kirchturm steht Ihnen doch nahe genug. Eben hat es drüben acht gebrummt.“

      „Acht Uhr!“ rief Frau Braun erschrocken, „und um halb sechs ist sie fortgegangen! Wenn dem Kind nur kein Unglück zugestoßen ist! Du lieber Gott, nur das nicht! Ich habe ja schon so viel Elend erlebt!“

      „Ach was,“ fiel Karoline ins Wort, „Unglück hin, Unglück her, was soll ihr denn zugestoßen sein? Bei den Buden wird sie stehen, man weiß doch, wie es die Kinder machen.“

      Aber Frau Braun beruhigte sich nicht bei diesen Worten, sie wußte, daß ihr Lenchen viel zu gewissenhaft war, um so lange nutzlos herumzubummeln. Sie zitterte vor Aufregung, denn mit einem Male hatte sie eine unerklärliche Angst erfaßt.

      Ohne ein Wort zu erwidern, griff sie nach ihrem Mantel und band ein Tuch um den Kopf. Noch einmal sah sie aus den schlafenden Knaben und bat die Köchin dringend, sie möchte doch, wenn sie nicht so schnell zurückkehren sollte, nach demselben sehen.

      „Ja, das will ich schon tun,“ sagte die und beklagte sich gar nicht, daß sie dann wieder die Treppen steigen müsse, – „aber sagen Sie um Gottes willen, wo wollen Sie denn ins Blaue hin?“

      „Mein Kind suchen,“ sagte entschlossen die Frau.

      „Sie wissen nicht einmal, wo der Herr Geheimrat den Baum gekauft hat,“ fuhr Karoline fort.

      „Ja,