Weihnachtsmärchenwald. Verschiedene Autoren. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verschiedene Autoren
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754924617
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Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen. Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

      Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

      Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte.

      Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

      Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

      „Wie, Essenszeit?“ sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. „Ah!“

      Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

      „So, Essenszeit!“ wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. „Ah-h-h-h!“

      Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

      „Es gibt nichts..“ sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

      „Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,“ fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. „Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.“

      Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

      „Es gibt nichts Regelmäßigeres,“ fuhr er fort, „als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!“

      Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

      „Du mein Himmel!“ sagte er, „die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche“ – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – „nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,“ fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; „aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!“

      „Vater! Vater!“ rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

      Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

      „Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,“ sagte Toby. „Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!“ fuhr Toby traurig fort. „Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind ...“

      „Vater! Vater!“ ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

      Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

      Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob,