Weihnachtsmärchenwald. Verschiedene Autoren. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verschiedene Autoren
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754924617
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und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah. Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

      „Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,“ sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, „die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.“

      Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

      „Aber wer ißt Kuttelflecke?“ fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. „Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!“

      Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

      „Wer ißt Kuttelflecke?“ fuhr Herr Filer mit Wärme fort. „Wer ißt Kuttelflecke?“

      Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

      „Ihr also, Ihr?“ sagte Herr Filer. „So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.“

      „Ich hoffe nicht, Sir,“ versetzte Trotty mit matter Stimme. „Lieber wollte ich verhungern!“

      „Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,“ nahm Herr Filer wieder auf, „so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.“

      Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

      „Und was sagt Ihr?“ fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. „Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr?“

      „Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?“ entgegnete der Gentleman. „Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!“ seufzte der rotgesichtige Gentleman. „Die guten alten Zeiten, die guten alten Zeiten!“

      Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

      „Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,“ wiederholte der Gentleman. „Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.“

      „Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,“ sagte Herr Filer. „Ich kann dies durch Tabellen beweisen.“

      Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

      Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

      „Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,“ dachte Trotty in Verzweiflung. „Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!“

      Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. „Gott helfe ihr,“ dachte der arme Trotty; „sie wird es bald genug kennen lernen.“

      Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

      „Halt“

      „Ihr wißt,“ sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, „ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen, wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet, und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt, was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,“ fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, „es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.“

      Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

      „Ihr seht, mein Freund,“ fuhr der Alderman fort, „man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,“ fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, „man kann solchen Leuten alles legen,