Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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heutiger Stadtrundgang führte ihn zunächst durch die unmittelbare Nachbarschaft. Er sah stattliche Villen, aber auch Wohnhäuser, die nicht einmal als armselig bezeichnet werden konnten. Selbst in der Nachkriegszeit hatte in seiner Heimat niemand über lange Zeit in derart miserablen Verhältnissen gelebt. Aber die Bewohner dieser schäbigen Behausungen standen oder saβen vollkommen gelassen in kleinen Gruppen am Straβenrand und unterhielten sich laut und lachten scheinbar pausenlos über irgendetwas. Manche spielten Brettspiele, wie er es auf der Flussreise gesehen hatte. Immer wieder sah er auch Gruppen in kleinen Runden zusammen sitzen und diesen seltsamen, bitter schmeckenden Tee trinken. Nur ein einziger Becher, die so genannte „Guampa“, wurde von allen benutzt, die in der jeweiligen Runde saβen. Je nach Tageszeit und Witterungsverhältnissen wurde ein wenig heiβes oder eisgekühltes Wasser auf den Brei aus fein gemahlenen Teeblättern in der Guampa gegossen und durch ein kleines Metallröhrchen, die Bombilla, gesaugt. Sobald ein schlürfendes Geräusch anzeigte, dass alle Flüssigkeit aufgesaugt war, wurde wieder Wasser aufgegossen und der nächste in der Runde kam an die Reihe. Ob es sich bei dieser Prozedur eher um ein Ritual oder reine Erfrischung handelte, konnte er noch nicht einschätzen.

      Immer wieder begegnete er auch Straβenhändlern, die mit kleinen Bauchläden oder einem riesigen Korb auf dem Kopf durch die Gassen wanderten. Manche begrüßten ihn, als würden sie ihn schon lange kennen und versuchten, ihm irgendetwas zu verkaufen. Wenn er dankend ablehnte, schauten sie ihn vorwurfsvoll oder ungläubig an und streckten fragend die Arme in die Luft. Erst wenn er dann das Futter seiner Hosentaschen nach außen zog und den Kopf schüttelte, zogen sie mit einem enttäuschten Seufzen die Stirn in Falten und setzten ihren nie endenden Weg fort.

      Schon nach wenigen Tagen hatte Arthurs Vater durch Zufall den Weg zum Hafen wieder gefunden. Bei dem Gedanken an seine Ankunft musste er grinsen. Er versuchte, durch die offenstehenden Flügeltüren einen Blick ins Innere des Hafengebäudes zu werfen, konnte aber nur schattenhafte Konturen ausmachen. Und hineinzugehen, danach stand ihm nicht der Sinn. Womöglich erkannte man ihn. Also ging er an dem schmucklosen Gebäude, das die meiste Zeit recht verlassen dastand, vorüber und erreichte kurz darauf ein prächtiges, wenn auch nicht sonderlich groβes, so doch geradezu prunkvolles Bauwerk. Überrascht von so viel baulicher Üppigkeit und architektonischer Liebe zu verschnörkelten Details blieb er stehen und schaute sich den Prunkbau an. Er musste die Augen etwas zukneifen, denn das strahlende Weiß der Mauern und Säulen warf das Sonnenlicht so leuchtend zurück, dass es blendete. Schmucke Arkaden und arabeskenverzierte Kapitelle prangten auf den Säulen des Mitteltraktes, der Balkon ging ohne Trennung in zwei Seitenflügel über. All das schien so gar nicht in die ärmliche Umgebung zu gehören. Hinter dem Gebäude, in Flussnähe, konnte er die gleichen ärmlichen Behausungen erkennen, wie in der Gegend, aus der er gerade gekommen war. Um gleichzeitig Prunk und Pracht neben Elend und Misere im Blickfeld zu haben, brauchte er nicht einmal den Kopf wenden.

      Durch einen scheltenden Ruf wurde er aus seiner Faszination gerissen: Soldaten kamen hastig näher und deuteten unmissverständlich an, dass er die Straβenseite zu wechseln habe. Der „Palacio de Gobierno“, von wo aus das gesamte politische Geschick des Landes geleitet wurde, war streng bewacht und es war für Unbefugte nicht erlaubt, sich davor aufzuhalten. Schlieβlich herrschte in Paraguay seit der Regierungsübernahme durch Alfredo Stroessner ein permanenter Ausnahmezustand. Die Bevölkerung des Landes hatte sich daran gewöhnt, und so war die Ausnahme zum Normalzustand geworden – und das schon seit beinahe einem Jahrzehnt!

      Nach einem leichten Schulterzucken und entschuldigendem Kopfnicken in Richtung der Uniformierten setzte Arthurs Vater setzte seine Wanderung fort. Überall konnte man Spuren der einstigen spanischen Eroberer entdecken, doch obwohl ihn die Bauten der spanischen Einwanderer beeindruckten, hatte er kein wirkliches Interesse für die Geschichte des Landes oder politische Entwicklungen. Es freute ihn eher, dass er solches Interesse im Deisenhofer’schen Hinterhaus vor niemandem zu simulieren brauchte.

      Sobald am späten Nachmittag seine Füße vom vielen Herumspazieren zu brennen anfingen, machte er kehrt. So wie in den letzten Tagen auch.

      Noch bevor er durch das Tor in den Patio kam, wusste er schon, was im Hinterhaus gerade vor sich ging: Justina war dabei, das Abendessen vorzubereiten, während Luisa die Kleinen badete. Hildegard half ihrer Mutter beim Kochen, Maria Celeste und sein Sohn saßen entweder in der Badewanne oder alberten in der Duschkabine herum.

      Wenn er Justina fragen würde, ob er irgendwie behilflich sein könnte, würde sie stumm den Kopf schütteln, ihn gar nicht weiter beachten.

      Er setzte sich also im Patio auf einen der Korbstühle und wartete einfach auf den Abend. Vor ein paar Tagen hatte er sich eine Tageszeitung mitgebracht, weil er nicht einfach immer nur dasitzen wollte bis man ihn zum Abendessen rief. Das komplizierte Vokabular des spanischsprachigen Nachrichtenblattes überforderte ihn jedoch.

      Ihm entfuhr ein Seufzer beim Gedanken an die beiden Kisten, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren. In diesen Kisten aus Fichtenholz befand sich seine gesamte Bibliothek, größtenteils ein Nachlass seiner Frau. Sie war eine leidenschaftliche Leserin gewesen, hatte Goethe ganz gern gehabt, Franz Kafka, Hermann Hesse und Theodor Storm geliebt, sich aber auch intensiv mit philosophischer Lektüre befasst. Er selbst hatte oft den Kopf geschüttelt, wenn sie sich stundenlang über Werke von Schopenhauer, Nietzsche oder Sartre den Kopf zerbrach, krampfhaft versuchte, die Aussagen dieser unterschiedlichen Denker gegenüberzustellen und den eigenen Sinn herauszuziehen.

      Nicht dass er jetzt auf die Idee gekommen wäre, sich näher mit derart schwieriger Lektüre zu beschäftigen, aber Zugriff auf deutschsprachige Literatur hätte sich zum ersten Mal in seinem Leben als eine willkommene Abwechslung erwiesen.

      Das untätige Warten auf Deisenhofer machte ihn nervös. Alle anderen jedoch, vor allem sein Sohn, schienen sich mit der neuen Routine wunderbar zu arrangieren.

      Die Abende, wenn alle Kinder schliefen, verbrachte er allein mit Luisa im Garten. Auch dieser Teil der neuen Routine machte ihn nur nervös. Innerlich fluchte er darüber, dass Justina nie dabei sein wollte. Offenbar war sie krankhaft menschenscheu.

      Justina saβ jeden Abend nach dem Putzen der Küche allein am groβen Esstisch. Sie las in der Bibel. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand folgte sie Zeile um Zeile dem Text, den ihre Lippen tonlos mitsprachen. Wieder und wieder hatte sie sich im Laufe der Jahre durch sämtliche Bücher der Bibel gekämpft. Sie war immer erleichtert, wenn sie mit dem Alten Testament fertig war und sich dem Neuen Testament zuwenden konnte. Ihre Gewissenhaftigkeit erlaubte es ihr aber nicht, sich ausschlieβlich mit dem Neuen, bei Weitem leichter lesbaren Bibelteil zu befassen. Das Hinwegblättern über den ersten Teil ihrer Lutherbibel wäre ihr frevelhaft erschienen.

      Zwar war sie nie wirklich offiziell aus der „Mennoniten Brüdergemeinde“ ihres Heimatortes hinausgeflogen, aber ihr fehlte aus gutem Grunde der Mut, in ihrer Kirche zu erscheinen – auch nicht in der Brüdergemeinde hier in der Hauptstadt. Denn das, was sie damals vor vielen Jahren in Filadelfia erlebt hatte, kam einer Exkommunikation gleich. Durchaus verdiente Exkommunikation, fand sie selbst. Die täglich in der Küche zelebrierte Abendandacht würde, so hoffte und betete sie inständig, die Gottesdienste in der Kirche ersetzen. Göttliche Gnade und Vergebung all ihrer Sünden waren ihr einziges Lebensziel.

      Ihr ganzes Leben, alles was sie tat und nicht tat, auch das Leben ihrer Tochter Hildegard und alles, was sie an dieses Kind weitergeben wollte, sollte einzig und allein dazu beitragen, dass sie für sich doch noch erhoffen könnte, Göttliche Gnade zu finden.

      Hildegard, dieses stille, äuβerst schüchterne, leicht verstört wirkende Mädchen lieβ bei allen so etwas wie Mitleid aufkommen. Sie schien die beinahe verbissene Ernsthaftigkeit ihrer Mutter geerbt zu haben wie die Form der Nase oder der Augen. Ganz selten hörte man sie lachen oder mit den anderen Kindern herumalbern. Auch ihre gesamte Garderobe schien nur aus der Pflichtuniform für die Schule und dunklen, knielangen Hemdblusenkleidern mit steifen Kragen zu bestehen. Ihr haselnussbraunes Haar flocht sie jeden Morgen blitzschnell in zwei lange Zöpfe, die ihr fast bis an die Taille reichten. Und die dunkelgrünen Augen, mit einem grauen Kranz in der Mitte, blickten mit stechender Aufmerksamkeit in die Welt. Sie schienen nichts zu übersehen.