Täglich machte sie sich frühmorgens auf den Weg, um auf der Don Bosco einen Bus zu nehmen, später in eine der langsam ruckelnden Straβenbahnen umzusteigen, die sie schlieβlich bis zur Goethe-Schule auf der Calle España brachte. Die etwa zwanzigsitzigen Busse, die durch die Innenstadt donnerten, waren um diese Tageszeit meist völlig überfüllt. Dieselgestank und wolkiger Qualm von Zigarro Poí, den einige Passagiere den Mitreisenden ungeniert ins Gesicht bliesen, machten den täglichen Schulweg für Hildegard zu einem ständigen Kampf mit der Übelkeit.
Nach dem Unterricht kehrte sie während der gröβten Mittagshitze auf demselben Weg zurück nach Hause. Die Heimfahrt hatte den Vorteil, dass es zu dieser Tageszeit meist möglich war, einen Sitzplatz zu ergattern. Die Nachmittage verbrachte sie in der Küche am Esstisch, wo sie unter Aufsicht der Mutter ihre Schulaufgaben erledigte. Damit war ihr tägliches Lernpensum jedoch längst nicht erfüllt: Justina lieβ sie unendlich lange Bibeltexte vorlesen und Verse oder auch Liedtexte aus einem Kirchengesangbuch auswendig lernen. Ganz selten erlaubte sie ihrer Tochter, sie bei den Einkäufen auf dem Markt zu begleiten, um ihr beim Tragen der schweren Einkaufsnetze zu helfen. Nur wenn sie einen Auftrag zum Schneidern hatte, und den ganzen Küchentisch in Beschlag nehmen musste, durfte Hildegard manchmal mit den anderen Kindern hinaus ins Freie.
Kapitel III.
Kapitel 3
Im vorigen Kapitel habe ich über Justina und ihre Tochter Hildegard geschrieben. Arthurs Vater hatte bei seiner Ankunft überrascht und hoch erfreut festgestellt, dass die beiden Deutsch sprachen.
„Ich will die Herkunft der beiden näher beschreiben“, sage ich zu Arthur, nachdem er den bisherigen Text gelesen hat.
„Wozu?“, fragt er und sieht mich überrascht an. „Ich kenne ihre Lebensgeschichte und sie hat nichts mit mir zu tun.“
„Falsch. Ich rede auch noch gar nicht von Justinas Geschichte im Speziellen, sondern von ihrem religiösen Hintergrund.“
„Auch die Geschichte der Mennoniten ist mir auch zur Genüge bekannt und auch sie hat nichts mit mir...“
„Nichts mit dir zu tun? Dass ich nicht lache! Immerhin bist du zu den Mennoniten ‘übergelaufen’ und einer von ihnen geworden.“
„Ich bin nicht ‘übergelaufen’! Die mennonitische Gesellschaft war die einzige, die ich hatte, nachdem wir von Asunción nach Filadelfia im Chaco umgesiedelt waren!“
„Richtig. Und deshalb halte ich es für wichtig, dass du dir die Herkunft und Entstehung dieser Gesellschaft noch einmal vor Augen führst und mir diese Geschichte genau erzählst.“
„Jetzt mach mich nicht schwach! Du hast genau wie ich in der Schule das Fach ‘Mennonitengeschichte’ durchkauen dürfen bis zum Geht-nicht-mehr! Auβerdem haben wir uns seit Jahren nächtelang über den Sinn und Unsinn von Abspaltungen in der Christlichen Kirche unterhalten.“
„Arthur, mein Freund, wir haben uns über alles unterhalten. Über dein ganzes Leben! Und trotzdem willst du jetzt, dass ich es aufschreibe. Es geht ja nicht um mich und was ich über dich und dein Leben weiβ, sondern darum, dass du alles, dein ganzes Leben schwarz auf weiβ lesen willst. Wenn ich über deine Begegnung mit Justina und Hildegard schreibe und ihr leicht verschrobenes Verhältnis zum Glauben, dann kommen wir doch an einer näheren Betrachtung der Mennoniten gar nicht vorbei. Schlieβlich sind Justina und Hildegard zentrale Figuren in deinem Leben geworden. Also – wie und wann sind die Mennoniten entstanden?“
„Im 16. Jahrhundert, wie du weiβt“, antwortet Arthur muffelig.
„Woher kommt der Name ‘Mennoniten’?“
Jetzt muss Arthur doch grinsen. „Ja, eigentlich hätten sie genauso gut ‘Simoniten’ heiβen können. Einer der ersten Anführer dieser Gruppe hieβ Menno Simons. Wenn sich die ersten Lutheraner auch nach dessen Vornamen benannt hätten, dann hieβen sie heute Martiniten und nicht Lutheraner.“
Ich gehe über diesen schlechten Witz hinweg und fordere Arthur auf, mir Näheres über Menno Simons zu erzählen.
Aber Arthur schnaubt nur ärgerlich. „Wenn du meinst, dass das hier wichtig ist, dann erzähle doch, was wir beide in der Schule über die Geschichten der Mennoniten gelernt haben. Ich habe nichts dagegen. Aber ich habe absolut keine Lust, diese ganze Geschichte noch einmal durchzukauen. Schlimm genug, wenn ich das Ganze nachher lesen muss.“
Ich lasse mich nicht beirren in meiner Meinung, dass die Entstehungsgeschichte der Mennoniten und ihre „Völkerwanderung“ Teil seiner eigenen Geschichte sind. Immerhin war Justina im Jahr 1933 zusammen mit einer gröβeren Gruppe dieser Religionsgemeinschaft nach Paraguay eingewandert. Und Arthur muss zugeben, dass sie ein Teil seines Lebens geworden war, genauso wie Luisa und Maria Celeste. Auf die beiden kommen wir sicherlich auch noch näher zu sprechen.
Menno Simons war im Jahr 1524 in Friesland, einer Provinz der Niederlande, katholischer Priester geworden, ohne je die Bibel in der Hand gehabt zu haben. Nur ganz wenige Kirchenmänner hatten damals das Vorrecht, eine Bibel zu besitzen. Das muss man sich einmal vorstellen: da predigt einer jahrelang, und weiβ gar nicht genau, welche Botschaft er eigentlich vertritt. Es gab damals in sämtlichen kleineren Kirchgemeinden nur so etwas wie mündliche Unterweisung. Simons muss zu Gute gehalten werden, dass er sich trotzdem eine Bibel beschafft und sie genau durchstudiert hat. Keine Selbstverständlichkeit zu jener Zeit.
Er stellte fest, dass es nirgendwo in der Bibel heiβt, Säuglinge müssten getauft werden. Diese Feststellung hatten vor ihm auch andere namhafte Priester gemacht und versucht, diese Tradition als unbiblisch abzuschaffen. Aber die Säuglingstaufe war ein fester katholischer Brauch. Fast alle Aufwiegler waren deshalb durch die katholische Kirche, die ja das Glaubensmonopol innehatte, grausam hingerichtet worden. Trotzdem entstanden irgendwann so genannte Wiedertäufer-Bewegungen. Das heiβt, erwachsene Gläubige lieβen sich erneut taufen, weil laut Bibel eine überzeugte Glaubenshaltung der Taufe vorausgehen sollte.
Durch diese Erwachsenentaufe grenzte sich eine Gruppe von den anderen Protestanten ab. Einer dieser anderen Protestanten war Martin Luther gewesen, der ja schon sieben Jahre bevor Menno Simons zum Priester geweiht wurde, eigene Verbesserungsvorschläge öffentlich gemacht hatte.
Neben der Taufe im Erwachsenenalter machte sich Simons unter anderem dafür stark, dass Gewalt und Kriegsdienst sich für einen Gläubigen nicht gehören. Gewalt hatte lediglich in der Kindererziehung ihren Platz, nicht aber im öffentlichen Leben. Ebenso wenig wie das Schwören. Alles, was einer Vereidigung bedurfte, wurde abgelehnt. „Eure Rede sei ‘ja’ und ‘nein’, was darüber ist, ist von Übel“, heiβt es schließlich in der Bibel.
Simons fing damals an, kleine Traktate zu schreiben und wurde dadurch in seinen Kreisen immer bekannter und gefragter. Historischen Berichten zufolge wurde er von einer Gruppe tiefgläubiger Menschen gebeten, ihr „Ältester“ zu werden. Er reiste daraufhin eine Zeit lang predigend durch die Gegend, was zu jener Zeit, um 1545, keine leichte Aufgabe gewesen sein dürfte. Es gab viele Feinde seitens der staatlichen Kirche. In Aufzeichnungen heiβt es, Simons sei „einer der wichtigsten Führer der verfluchten Sekte der Wiedertäufer“ gewesen. Seine Ansichten und Hartnäckigkeit passten offensichtlich vielen Politikern und auch Kirchenmännern nicht, zumal er, wie andere Reformer und Wiedertäufer auch, vehement dafür sprach, dass Staat und Kirche voneinander getrennt werden sollten. Das bedeutete für ihn, dass er damals gefährlich lebte. Sie haben ihn aber, soweit ich weiβ, nie gekriegt, denn er soll eines natürlichen Todes gestorben sein. Aber bevor er starb, war es ihm gelungen, eine relativ groβe, in sich geschlossene Gruppe von gläubigen Christen zusammenzubringen, die sich streng an seine Grundsätze halten würde.
Diese Gruppe von Christen, die von anderen Protestanten und Katholiken spöttisch „Mennisten“ genannt wurde, wuchs immer weiter. Man war darauf bedacht, Gemeinschaft untereinander und Traditionen zu pflegen. Allerdings waren die Gebiete, in denen das möglich war, stark begrenzt, obwohl gewisse Staatsoberhäupter