Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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hatte kommen können. Der Grund dafür schien keine Rolle zu spielen.

      Mit der typischen Selbstverständlichkeit einer paraguayischen Frau nahm sie Arthur auf den Arm, strich dem Kleinen liebevoll über die rotglühenden Wangen und forderte seinen Vater auf, ihr am Haupthaus vorbei in den Hinterhof zu folgen. Das beinahe knochige Mädchen, offensichtlich ihre Tochter, lief ohne ein Wort zu sagen neben ihnen her.

      Das schlichte Vorgärtchen gleich hinter der Mauer ließ keinerlei Vorstellungen von der bunten Üppigkeit des weiter hinten gelegenen Patios aufkommen. Und die Fassade der weißgetünchten, nicht allzu großen Villa wirkte trotz ihrer vielen Schnörkel irgendwie ernst … gediegen.

      Ganz anders zeigten sich Einfahrt und Hinterhof. Wo einst eine relativ breite Auffahrt vom großen Holztor zum Hinterhaus geführt hatte, ließen heute riesige, buntblättrige Büsche gerade mal genügend Freiraum, um zu zweit nebeneinander her zu gehen. Die Farben der Krotons reichten von schwarz-roten, über gelblich orangefarbenen, hin zu gelbgemaserten, tiefgrünen Blättern in verschiedenen Größen und Formen. Diese bunte Blätterpracht war durchwachsen von hohen Drachenbäumen, Yuccas und anderen Grünpflanzen.

      Ebenso auffallend wie die Farben und das üppige Grün war der feine, süßliche Duft, welcher schwer über der Auffahrt hing. Bei jedem Schritt, mit dem man an der Villa vorbeiging und sich dem Patio näherte, wurde der Duft betörender. Sein Ursprung, die kaum mehr als Daumennagelgroßen, strahlend weißen Blüten, führten bei der überwältigenden Farbenpracht des Gartens eher ein Schattendasein. Sie verdeckten wirkungsvoll die verwitterte Außenmauer, die das Grundstück zum rechts gelegenen Nachbarn hin abgrenzte.

      An derselben Mauer befand sich ein kleines Holzhäuschen. Der herzförmig ausgesägte Abzug in der Tür wies eindeutig auf den Zweck dieses wie weggestellt wirkenden Häuschens hin.

      Palmen, deren buschige Wipfel dazu zwangen, den Kopf weit nach hinten zu legen, um ihre hoch über dem Boden schwebenden, meterlangen Blätter sehen zu können, umgaben den Innenhof wie eine Mauer aus lebenden Säulen.

      In der Mitte des Patios befand sich, umrahmt von rot und gelb blühenden Hibiskus-Sträuchern, eine nicht allzu große Rasenfläche, die jedoch nicht aussah, als würde sie regelmäßig abgemäht oder mit Sorgfalt gepflegt. Das herumliegende Holzspielzeug, einige herumstehende Hocker und Stühle aus Korbgeflecht schienen genauso in den Patio zu gehören wie der hüfthoch ummauerte Brunnen, der eindrucksvoll in der Mitte posierte, als wüsste er über seine Unverzichtbarkeit genauestens Bescheid. Er war Quell frischen Wassers und somit das Zentrum, basta. Auch die hölzerne Seilwinde, die wie eine überdimensionierte Garnspule darüber hing, wirkte wie ein Bollwerk von Unzerstörbarkeit.

      Das Herumhüpfen der zahllosen Spatzen, die sich scheinbar pausenlos im Patio aufhielten, versetzte das Gesamtbild des Hinterhofes auch dann in Bewegung, wenn sich gerade kein Mensch dort aufhielt. Ihr lautes, heiteres Zwitschern wurde nur hin und wieder von Hundegebell aus der Nähe oder weiter Entfernung unterbrochen.

      Hier im rundum eingemauerten Garten voller Leben und dennoch friedvoller Atmosphäre setzte Luisa den kleinen Arthur ab. Direkt vor ihm befand sich, den Innenhof nach hinten hin abschließend, das Hinterhaus, welches in den kommenden Jahren sein Zuhause sein sollte.

      Ihn interessierte das alles nicht. Er hatte weder Augen für die prachtvollen, bunten Büsche und Blumen, die den gnadenlos zubeißenden Zahn der Zeit an Außenmauern und Gebäuden mit großzügiger Schönheit verdeckten, auch nicht für die auffallend vielen herumflatternden Vögel oder das Spielzeug, das einladend im Rasen lag. Er sah das Mädchen, das scheu in der Nähe seiner Mutter blieb, aber neugierig zu ihm herüber schaute und einmal mit dem Kopf nickte, nachdem Luisa irgendetwas zu ihr gesagt hatte.

      Die beiden Erwachsenen machten sich daran, die Koffer vor das Hinterhaus zu schleppen. Die Kisten stellten sie an den Rand der Auffahrt. Unendlich erleichtert darüber, dass er hier offensichtlich erwartet worden war, versuchte Arthurs Vater der hilfsbereiten Luisa, die allem Anschein nach als Haushälterin in Deisenhofers Stadthaus lebte, seine Dankbarkeit klar zu machen und irgendetwas Nettes zu sagen. Sie lachte nur über sein unbeholfenes Gestammel und zeigte ihm, wo er die Koffer abstellen sollte.

      Arthur und das Mädchen standen sich währenddessen einfach nur gegenüber und sahen sich an. Sie lächelten nicht, der Ausdruck auf ihren Gesichtern war auch nicht besonders ernst, oder gar feindselig, sondern drückte einfach Interesse aus.

      Arthur behauptet heute, er könne sich an die Ankunft im Patio genau erinnern. Selbst der Duft der blühenden Gartensträucher steige ihm noch heute in die Nase, wenn er an die erste Begegnung mit Maria Celeste denkt. Sein Blick wird beinahe nostalgisch, wenn er sagt, in jenem Hinterhof habe seine Kindheit erst angefangen, und sei auch dort zu Ende gegangen.

      Vielleicht hat ja der kleine Arthur dort im Patio tatsächlich schon damals genau begriffen, dass er einem Menschen gegenüberstand, der eine groβe Bedeutung in seinem Leben spielen würde.

      Ich habe mich oft gewundert: An seinen kurzen Lebensabschnitt im Deisenhofer’schen Hinterhaus in Asunción kann sich Arthur rätselhafterweise erstaunlich gut erinnern. Ich schreibe „rätselhafterweise“ und „erstaunlich“, da es doch eher ungewöhnlich ist, dass man sich an die Zeit zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr mit geradezu fotografischer Genauigkeit erinnert. Ich muss allerdings einräumen, dass ich ja außer Arthur kaum jemanden kenne, mit dem ich Unterhaltungen über Kindheitserinnerungen geführt hätte. Vielleicht ist die bildhafte Erinnerung an gewisse Kindheitserlebnisse oder gewisse Zeitabschnitte in der Kindheit ganz normal. Aber ich bezweifle – und das ganz entschieden! – dass ein vierjähriges Kind begreift, oder sogar voraussieht, welche Menschen in seiner Zukunft eine besondere Rolle spielen werden.

      „Ich wusste, dass dieses Mädchen meine erste Frau sein sollte“, behauptet Arthur unbeeindruckt von meinen Zweifeln.

      „Quatsch! Du hast dich in dem Moment wahrscheinlich einfach gefreut, ein Kind vor dir zu haben, das nur wenig gröβer war als du.“

      Arthur widerspricht: „Fakt ist doch, dass Kinder ganz oft viel besser als die Erwachsenen spüren, welche Begebenheiten eine besondere Tragweite haben. Kleinkinder haben oft viel feinere Antennen für die Zukunft. Und das ist eigentlich auch überhaupt nicht verwunderlich: Für die ganz kleinen Wesen ist es noch nicht so lange her, seit sie aus dem zeitlosen Raum herausgetreten sind. Verstehst du, möglicherweise ist ja der Ort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch Eins sind, für Kleinkinder noch eine dunkle Erinnerung. Auβerdem ist in dem Alter vieles noch ‘selbst-verständlich’ im wahrsten Sinne des Wortes! Gerade weil man eben nicht versucht, Ahnungen, Stimmungen, diffuse Gefühle, beziehungsweise wortloses Wissen in Worte zu fassen. Die Sprache reicht doch für alle unsere Gefühle überhaupt nicht aus. Im Gegenteil: sie verkompliziert doch alles, was man meint, erklären oder begründen zu müssen. So wie ein Baby von Natur aus schwimmen kann und das sehr bald wieder verlernt, so hat doch ein Kind ein natürliches Verständnis für das Geschehen, für die Schwingungen im Ganzen, ohne in Zeit und Raum verhaftet zu sein. Als Erwachsene brauchen wir eine logische Folge der Abläufe um dann daraus Schlüsse zu ziehen. Ein Kind trägt das Wissen über den einzig möglichen Schluss noch in sich.“

      „Na klar,“ kontere ich, „im Nachhinein lässt es sich leicht sagen, dass du es schon damals gewusst hast. Schwingungen! Wenn ich das schon höre!“

      Für einen kurzen Augenblick trifft mich sein wütender Blick. Dann lächelt er und sagt: „Schreib einfach weiter!“

      Nachdem Luisa das Tor wieder versperrt hatte, stellte sie eine riesige Wanne aus Zink auf die Rasenfläche, zog den kleinen Arthur aus und setzte ihn behutsam in das angenehm kühle Wasser. Er muss erfreut, vielleicht auch unerwartet laut gelacht oder gequietscht haben, denn das dabeistehende Mädchen, Maria Celeste, die bisher keinen Laut von sich gegeben hatte, fing ebenfalls an zu lachen. Ohne ihre Mutter zu fragen, zog sie sich Hemd und Höschen aus und stieg zu Arthur in die Wanne. Sie strahlte vor Freude.

      Man überlieβ die Kinder sich selbst, Luisa zeigte Arthurs Vater das Hinterhaus. Es gab eigentlich nur zwei Zimmer: Küche und Schlafzimmer. Beide Räume hätten Platz genug geboten, um dort Tanzabende zu