Bei dieser Gelegenheit, an seinem allerersten Tag in Asunción, stellte Arthurs Vater fest, dass es in Paraguay immer irgendjemanden gibt, der jemanden kennt, der wiederum die Person kennt, von der die Rede ist. Wie ein Bienenschwarm summte es um ihn herum, nachdem er seine Erklärungsversuche beendet hatte. Scheinbar redeten jetzt alle gleichzeitig. Jeder, der etwas beizutragen hatte, redete lauter als sein Vorredner. Bis sich alle plötzlich einig waren, wer dieser gewisse Deisenhofer denn nun sei und wo er wohne. Jeder Zweifel am gefundenen Ergebnis schien ausgeschlossen. Triumphierende Zufriedenheit in allen Gesichtern.
Ein Hafenangestellter, der sich offensichtlich in seiner speckig glänzenden Uniform sehr wichtig fühlte, schickte einen Zeitungsjungen los, um einen Wagen zu rufen. Kaum eine Viertelstunde später fuhr ein klappernder Pferdewagen aus Holz vor den Eingang des Hafengebäudes. Der Alte, der den Wagen lenkte, brachte den mageren Gaul zum Stehen, zeigte aber mit keiner Miene, dass er eifrig darauf aus gewesen wäre, irgendeinen Auftrag zu erfüllen. Zusammengesunken saβ er auf einem quer über den Wagen gelegtes Brett, und wartete einfach. Der Hafenangestellte schien dem alten Kutscher genau einzuschärfen, wo das Stadthaus von Julius Deisenhofer zu finden sei.
Nachdem alle Gepäckstücke auf den Wagen gehoben worden waren, kassierte der Mann vom Hafenpersonal einen willkürlich angesetzten Betrag von Arthurs Vater, lieβ einige Scheine in die Tasche seiner Uniform wandern und knautschte den Rest in die Hand des ausdruckslos vor sich hin starrenden Kutschers. Dieser warf einen kritischen Blick auf die Scheine in seiner Hand, schien dann aber augenblicklich aus seiner Lethargie zu erwachen. Schwungvoll lieβ er die ledernen Zügel auf den Rücken des Pferdes klatschen und lenkte das knochige Tier mit riesigen Scheuklappen zielsicher durch die holprigen, kopfsteingepflasterten Straβen. Schlieβlich machten sie, nur wenige Straβen vom Hafengebäude entfernt, unter einem Mangobaum vor einer weiβ getünchten Mauer Halt.
„La casa del Señor Deisenhofer“, soll der alte Kutscher gesagt haben, wobei er den Namen etwa wie Däisenchoffe aussprach. Dann sprang der Alte mit überraschend federnder Leichtigkeit ab und stellte die Koffer und Kisten mit Arthurs Vater zusammen an den Straβenrand. Der Kleine Arthur stand schlaftrunken, mit glühend roten Wangen dabei und beobachtete die beiden Männer.
Der Wagen fuhr bereits wieder ab, als Arthurs Vater mit der flachen Hand an das Holztor klopfte, dabei mit lauten Hallo-Rufen versuchte, sich bemerkbar zu machen.
Somit endet der geradezu extrem zeitgeraffte Bericht über Arthurs Reise und Ankunft in Paraguay.
Ich habe versucht herauszufinden, was Arthur heute über die Entscheidung seines Vaters denkt, hier in Südamerika auf’s Geratewohl ein neues Leben zu beginnen. Arthurs Zukunft war davon schlieβlich auch betroffen gewesen.
„Wäre es für dich nicht besser gewesen, wenn du in Deutschland bei deinen Tanten aufgewachsen, eine Ausbildung gemacht, vielleicht irgendwann den Betrieb deines Groβvaters übernommen hättest?“
Arthur hat mich angesehen und sich viel Zeit mit seiner Antwort gelassen: „Komisch. Sonst bist doch du immer derjenige, der mir sagt, ich würde mir zu viele Gedanken machen. Ich nehme es einfach, wie es ist – ich bin hier, basta.“
„Jetzt tu’ nicht so, als hättest du dir diese Frage noch nie gestellt! Ich weiβ doch, dass du oft den Tag verflucht hast, an dem du hierher in den Chaco gekommen bist!“
„Das ist ja auch etwas anderes! Auf jeden Fall habe ich nie, absolut nie! über den Tag geschimpft, an dem mein Vater und ich in das Deisenhofer’sche Hinterhaus gekommen sind. Dass wir schon wenige Jahre später von dort aus wieder fortgegangen sind, um hier im Chaco von vorne anzufangen, hat meine ganze Kindheit kaputt gemacht. Hierher in diese Gegend zu kommen war der schlimmste Fehler meines Vaters. Falsch für mich – für ihn selbst offensichtlich nicht.“
„Du sagst also, dass du nicht die Auswanderung nach Paraguay falsch findest, sondern…“
„Genau! Hier in diese mennonitische Kolonie zu kommen, war verkehrt. Verkehrt für mich!“
„Warum?“
„Was soll diese Frage! Du weiβt ganz genau, was mir erspart geblieben wäre, wenn ich diese Gesellschaft nie kennen gelernt hätte! Wenn ich nie als Außenseiter in eine Gemeinschaft eingedrungen wäre, die arrogant genug ist, sich selbst die Note ‘sehr gut’ auszustellen!“
„Natürlich weiβ ich das. Es geht ja auch darum, deine Begründung für deine Ansichten zu finden, um sie aufzuschreiben.“
„Du hattest mich aber gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Das ist etwas anderes, mein Lieber! Wenn gewesen wäre, hätte, könnte! Das ist der Konjunktiv – nicht existent!“
„Du solltest bedenken, dass der Konjunktiv die Ausgangsbasis für viele philosophische Betrachtungen ist. Das, was du so hochtrabend als ‘Selbstfindung’ bezeichnest, ist schlieβlich nichts anderes als die Analyse deines Egos, ergo auch die Analyse deines Charakters, und Charakteranalyse kommt an Philosophie nicht vorbei. Du hast dich ja auch jahrelang mit Philosophen, Weltkritikern und dergleichen befasst.“
„Jawohl, habe ich. Das hat aber nichts damit zu tun, was ich vielleicht andernorts getan hätte!“
„Da muss ich dir Recht geben, Arthur.“, habe ich eingeräumt. „Trotzdem möchte ich gern wissen, ob dir nicht so mancher Gewissenskonflikt erspart geblieben wäre, wenn du nicht …“
„Was? Hier in der Mennonitenkolonie zum Mennoniten geworden wäre? Ja, natürlich wäre alles anders gewesen! Aber wenn du damit anfängst, könnte ich dir auch sagen, dass die ganze Menschheitsgeschichte anders verlaufen wäre, wenn… wenn Eva den Apfel nicht gegessen hätte!“
Dieser Vergleich hat mich zum Lachen gebracht. Und ich habe beschlossen, vorerst einfach weiterzuschreiben über das, was gewesen ist.
Kapitel II.
Kapitel 2
Hier war man nun also vor dem Haus, das der Kutscher als „Casa del Señor Deisenhofer“ bezeichnet hatte. Arthurs Vater klopte zuerst mit flacher Hand, dann mit der Faust an das Holztor und rief zuerst auf Deutsch „Hallo!“, dann auf Spanisch „Hola!“, bis endlich Schritte zu hören waren. Das groβe Tor wurde von einer freundlich lächelnden Frau geöffnet. Sie war schätzungsweise Mitte dreiβig, mittelgroβ, recht schlank, aber dennoch wohlgerundet und auffallend schön. Sie trug eine bestickte, kurzärmelige Bluse und einen weiten, knallbunten Rock, der ihr fast bis an die Knöchel reichte. Ihr volles, tiefschwarzes Haar hing in einem losen Zopf über der Schulter. Ein kleines, ausgesprochen mageres Mädchen schlüpfte ebenfalls sofort mit durch den Torspalt hinaus und beäugte den Fremden und sein Kind mit unverhohlener Neugier. Die Señora begrüβte Arthurs Vater mit fragendem Blick und verstand ihn sofort, als dieser umständlich versuchte zu erklären, dass er der Deutsche sei, den Herr Deisenhofer am Hafen hätte treffen sollen.
Daraufhin stellte sich die Frau als Luisa vor und lieβ einen nicht enden wollenden Redeschwall los. Ausholende Gesten begleiteten ihren Vortrag. Plötzlich unterbrach sie sich, Zweifel stand ihr im Gesicht. Sie musste gemerkt haben, dass der dümmlich dreinblickende Gringo kein Wort verstanden hatte. Sie lachte. Dann holte