Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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ersten zwei, drei Tage kam er aus dem Staunen nicht heraus. Der wilde Flusslauf mit seinen teilweise sandigen Stränden, den schilfbewachsenen oder jäh abfallenden, lehmigen und tief zerfurchten Ufern bot weiträumigen Lebensraum für farbenprächtige Wasservögel, die sich nicht um das vorbeifahrende Schiff kümmerten, sondern konzentriert auf die Wasseroberfläche starrten. Er sah auch kleine Gruppen von Wasserschweinen, die nie stillzustehen schienen, und schlammbraune Kaimane, die in der Sonne herumlagen, bisweilen ihr Maul weit aufrissen und scheinbar gelangweilt gähnten.

      Eines Morgens erkannte er dort, wo dicht mit Lianen und Schlingpflanzen durchflochtene Baumgruppen nah an den Fluss heranreichten, eine Gruppe von kleinen, niedlich anzuschauenden Äffchen. Am selben Tag erblickte er auch Tukane mit riesigen, farbenprächtigen Schnäbeln. Anfangs entfuhren ihm noch begeisterte Ausrufe der Bewunderung, wenn er solch exotische Schönheiten erblickte, woraufhin sich alle anderen auf Deck zu ihm umdrehten. Meist reagierten die Umherstehenden dann mit einem freundlichen, jedoch eher unverständlichen Lächeln, wenn sie den Grund des Gefühlsausbruchs erkannten. Offenbar interessierte sich niemand sonst auf dem Schiff für die wilden Tiere am Ufer.

      Mitunter zerriss das Geschrei von Papageienschwärmen das gleichmäßige Murmeln der Schiffsmotoren. Das Kreischen der grünen Vögel durchschnitt die klare Luft über dem Fluss dann derart laut und schrill, dass es noch im Ohr hing, auch wenn der Schwarm längst auβer Hörweite war. In der Nacht sangen, trommelten oder brummten Frösche und Kröten in unterschiedlichsten Stimmlagen. Absolute Stille gab es eigentlich nie.

      Nach einigen Tagen wandelte sich die Faszination für die Natur in der Flussebene in gleichmütiges Gefallen, schlussendlich in Langeweile. Das vorbeiziehende Landschaftsbild wiederholte sich im Laufe der abgefahrenen Kilometer immer wieder. Abwechslung vom stundenlangen Hinausstarren boten nur noch die wenigen angesteuerten Häfen. Diese Häfen waren eigentlich nichts weiter als Anlegestellen und bestanden aus einer Hütte, mit Palmenstroh oder Wellblech gedeckt, und einem Landesteg aus Holzbohlen mit wackeligem Geländer. Hier wurden neue Passagiere aufgenommen, andere verlieβen den Kahn. Arthurs Vater beobachtete, wie manche Ankömmlinge mit groβem Hallo in Empfang genommen und zur Heimfahrt auf einen Ochsenkarren mit unendlich groβen Rädern aus sonnengebleichtem Holz kletterten, andere lieβen sich auf einer Wartebank beim Hafengebäude nieder. Diese Unterbrechungen dauerten jedoch selten länger als eine halbe Stunde.

      Erst die Ankunft im Hafen von Asunción sollte der langweiligen Ruhe, die sich letzten Endes als der einzige Luxus der Flussfahrt herausgestellt hatte, ein jähes Ende setzen. Von der sprichwörtlichen Gelassenheit der Südamerikaner sah Arthurs Vater hier im Hafen zunächst einmal gar nichts. Beim Entladen von Kisten, Koffern, mit dünnen Hanfschnüren zusammengehaltenen Bündeln und Körben aller Art herrschte ein unübersehbares Chaos. Wie beim Antritt der Schiffsreise erinnerte auch hier das Gewühl der umhereilenden Menschen an ein Ameisenvolk, das durch äußere Umstände in Unruhe geraten ist. Überall hörte man unverständliches Geschrei, koffertragende Reisende schienen planlos hin und her zu hetzen, alle Regeln der Höflichkeit vergessen. Wie ein kurzer, heftiger Sturm fegte die Aufregung der Schiffsankunft über den Hafen. Arthurs Vater hatte in dem hektischen Gewühl keine Möglichkeit, den geschäftig umherlaufenden Hafenarbeitern rechtzeitig klar zu machen, welche Gepäckstücke ihm gehörten. Immer wieder sah er sich nach jemandem um, der den Eindruck machen könnte, nach ihm zu suchen. Irgendwer musste doch erscheinen, um ihn aus dem Gewirr von Reisenden und Hafenarbeitern herauszuholen. Niemand kam. Der Laderaum im Bauch des umgebauten Frachtkahns glich einer Rumpelkammer. Laut rufend versuchte er, irgendjemandem klar zu machen, dass seine Gepäckstücke noch nicht vollzählig neben dem Hintereingang des Hafengebäudes aufgestapelt waren. Und der Kahn wollte offensichtlich wieder ablegen, um das nächste Ziel, Puerto Casado, weiter im Norden anzusteuern. Er sah sich um. Wo blieb der Mann bloß, der ihn abholen sollte? Eine der dickleibigen Señoras vom Schiff kam auf ihn zu, drückte ihm sein Kind in den Arm, strich dem Kleinen über den Blondschopf und rief immer wieder: „Adiós, mi angelito“, und „Dios te bendiga, Dios te bendiga...“ Dann drehte sie sich um und stapfte mit wogenden Hüften und rudernden Armbewegungen zurück auf den Kahn.

      Das Schiff legte ab und ganz plötzlich legte sich der Sturm im Hafen. Innerhalb von Minuten kehrte Ruhe in das ganze Hafengelände zurück. Allein Arthurs Vater war alles andere als ruhig. Zwei der Kisten, die er aus Europa mitgebracht hatte, waren noch auf dem Schiff, als es sich langsam wieder in Bewegung gesetzt hatte. Niemand vom Hafenpersonal schien sich davon irgendwie betroffen zu fühlen, dass der Fremde mit dem Kind auf dem Arm protestierend umherlief. Keiner verstand, was er sagte. Warum sollte man sein lautes, nervöses Gerede also beachten?

      Der kleine Arthur spürte die hilflose Aufregung seines Vaters und musste sich übergeben. Eine weiβliche, käsig riechende Brühe ergoss sich über die linke Schulter, an der sich der Vierjährige krampfhaft festhielt. Das Gesicht des Vaters wurde blass. Blass vor Wut. Er merkte, dass niemand auch nur ansatzweise daran dachte, ihm behilflich zu sein. Am liebsten hätte er sich heulend wie sein Kind in eine Ecke gesetzt und darauf gewartet, dass irgendjemand seine Situation in Ordnung brächte. Er war der Meinung gewesen, seine Ankunft sei im Voraus ausreichend durchdacht, geplant und organisiert gewesen. Hier empfing ihn jedoch nichts anderes, als ein fremdes unübersichtliches Chaos. Und dieses Chaos schien völlig alltäglich zu sein, denn keiner außer ihm reagierte darauf mit Erstaunen oder gar verärgert. Alle machten Gesichter, als schienen sie sich in diesem Durcheinander auszukennen, sich darin sogar heimisch zu fühlen.

      Arthurs Vater fühlte sich plötzlich verlassen. Fremd, allein und hilflos.

      Über seine Freunde in Deutschland war die Abmachung mit einem gewissen Julius Deisenhofer in Paraguay getroffen worden, dass dieser in der Woche vom 18. bis zum 25. April täglich am Hafen nach ihm ausschauen würde. Immer wieder fragte Arthurs Vater am einzigen Schalter aufgebracht nach Julius Deisenhofer, aber die Hafenangestellten schüttelten nur verständnislos den Kopf. Je deutlicher sie zeigten, wie wenig wichtig sie die unverständlich hervorgebrachten Fragen nahmen, desto lauter wurde Arthurs Vater in seinem Tonfall. Und je lauter, ärgerlicher und unverständlicher er seine Gesuche um Auskunft formulierte, desto deutlicher zeigten die Hafenangestellten ihr Desinteresse.

      Das Hafengebäude hatte sich geleert. Lediglich ein paar Straβenverkäufer, Zeitungsjungen und Schuhputzer lungerten am Schalter bei den Angestellten herum. Leute von der Putzkolonne fegten und wischten laut miteinander schwatzend den Fuβboden. Mitunter schüttelten sie den Kopf und warfen sich untereinander vielsagende Blicke zu, wenn Arthurs Vater mit schweiβnasser Stirn und nach Übergebenem riechend von einer Ecke in die andere lief, während er leise vor sich hin fluchte. Er war wohl nicht auf die Idee gekommen, sich drauβen im Schatten der Flammenbäume, hier Chivatos genannt, niederzulassen und dort auf seine Abholung zu warten. Die stickige warme Luft im Inneren des Gebäudes lieβ den Schweiβ in kleinen Rinnsalen an seinem Hals hinunterlaufen, sein blaukariertes Hemd klebte am Rücken. Wenigstens war der kleine Arthur inzwischen eingeschlafen. Er lag auf dem Fußboden, das Köpfchen auf eine weiche Reisetasche gestützt.

      Schon auf der Flussfahrt waren Arthurs Vater viel von seiner Unternehmungslust und seinem Pioniergeist abhandengekommen. Aber dass ihn jetzt niemand abholte, das war zu viel. Schlichtweg zu viel!

      Allmählich stieg die dunkle Ahnung in ihm hoch, dass er auf irgendwelche Märchen hereingefallen sein könnte. Phantasiegeschichten. Ein zynisches Grinsen zog über sein Gesicht, als er an die Gespräche in der Kneipe dachte. An die begeisterten Vorträge über Paraguays farbenprächtige Fauna, die vielfältigen und unkomplizierten Geschäftsmöglichkeiten, die Versprechungen. Ihm dämmerte langsam: nur weil er zufällig etwas von Tierhäuten verstand, hatte hier, südlich des Äquators, niemand sehnsüchtig auf seine Ankunft gewartet.

      Er verlangsamte sein nervöses Hin- und Herlaufen. Beschämt zwang er sich zur Ruhe und begann darüber nachzudenken, wie er sich selbst aus der geradezu peinlichen Lage befreien könnte. Unsicher wandte er sich erneut an die beiden Männer am Schalter. Er versuchte – höflich – die wenigen Spanischbrocken anzuwenden, die er inzwischen gelernt hatte, und den Beamten seine Bedrängnis klar zu machen. Immer wieder machte er dabei Pausen, um in seinem Wörterbuch nachzusehen. Sein Gestammel dürfte sich etwa so angehört haben: „Ich…kommen von Deutschland,… erwarten Señor Julius