Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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Weichselniederung trockenzulegen und in Weideland zu verwandeln. „Betet und arbeitet“ war einer ihrer wichtigsten Grundsätze geworden.

      Die Landstriche aber, die sie über mehrere Generationen lang bewirtschaften und dabei die eigene Lebensweise pflegen durften, wurden zu eng. Man brauchte weitere Ausdehnungsmöglichkeiten. Und man hat sie bekommen: In Russland, am Schwarzen Meer, gab es genug Ländereien, wo freiwillig und ohne schwerwiegenden Grund niemand hin wollte. Katharina die Groβe hatte von den ganz und gar nicht arbeitsscheuen Mennoniten gehört...

      Etwa 900 Mennoniten waren im Jahr 1788 nach Russland ausgewandert. Neuer Reichtum an den Ufern des Dnjepr und der Wolga! Diesem neuen Reichtum waren, wie ich gerechterweise erwähnen muss, harte Arbeit und viele Entbehrungen vorausgegangen. Es war ihnen sicherlich nichts geschenkt worden. Wenn ihnen der Kommunismus erspart geblieben wäre, hätten sie in Russland heute sicherlich groβe Landesteile besiedelt. Aber der Kommunismus sollte kommen und viele der deutschstämmigen Siedler, die in ihren Kirchen kein Deutsch mehr singen und predigen durften, sind nach Kanada, in die USA und von dort aus auch nach Mexiko gezogen. Und eine Gruppe beschloss eben, nach Paraguay auszuwandern, weil es hieβ, dass man dort in Ruhe beten und arbeiten, aber auch deutsche Predigten hören dürfte.

      Justina war in Russland geboren worden und hatte als kleines Mädchen an dem Teil der Wanderung teilgenommen, der eine relativ kleine Gruppe des „mennonitischen Volkes“ von Russland über Deutschland nach Paraguay gebracht hat.

      „Mennonitisches Volk!“, hat Arthur gerufen, nachdem er meinen extrem zusammengefassten Bericht über den Ursprung der Mennoniten gelesen hatte.

      „Sie sind doch kein Volk, sondern eine Religionsgemeinschaft! Zuerst so etwas wie eine Abspaltung der Protestanten, dann eine ganz eigenständige Bewegung. Jeder kann sich heutzutage auf den mennonitischen Glauben taufen lassen und einer von ihnen werden!“

      „Das ist schon richtig, aber du wirst mir wohl kaum widersprechen, wenn ich sage, dass sie sehr genau wissen, wer seine Wurzeln in der ursprünglichen Gemeinde hat und wer nicht. Selbst ihre alte, plattdeutsche Mundart grenzt den Kern ihrer Gruppe ganz stark gegen alle dazugekommenen Mitglieder ab. Bis heute.“

      „Na gut, das mag stimmen.“

      Justina konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, jemals in einem anderen Land als Paraguay gelebt zu haben. Schlieβlich war sie bei der Auswanderung aus Russland erst ganze sechs Jahre alt gewesen. In ihren Erinnerungen schwebten noch langsam verblassende Bilder vom ukrainischen Dorf, in dem sie als Kleinkind gelebt hatte. Ganz deutlich erinnerte sie sich allerdings an die Ungewissheit und die niedergedrückte Stimmung, die auf der Flucht spürbar gewesen waren. Niemand hatte ihr damals erklärt, warum sie alles stehen und liegen lassen mussten und wohin die lange Reise gehen sollte.

      Das Leben hatte im Chaco neu angefangen... und war dort für sie auch in gewisser Weise zu Ende gegangen. Zwischen ihrem jetzigen Dasein in der Stadt und dem behüteten Leben, das sie in der mennonitischen Siedlung im Chaco geführt hatte, herrschte ein krasser Gegensatz. Sie hatte sich „der Unzucht schuldig gemacht“. Schande und Verbannung in die Stadt. Ausbürgerung. Kein Weg zurück. Deshalb war sie jetzt fest entschlossen, überhaupt nicht an dem städtischen Leben teilzunehmen.

      „Nicht an dem Leben in der Stadt teilzunehmen! Was soll denn das schon wieder heiβen?“ Arthur kann es nicht lassen, an meinen Formulierungen herumzumeckern.

      „Dann schreib doch selber, wenn es dir nicht passt!“

      „Es geht nicht darum, ob es mir passt oder nicht, ich finde deine Ausdrucksweise nur manchmal ein bisschen seltsam, so melodramatisch, fast theatralisch!“

      „Was ist daran theatralisch, wenn ich behaupte, Justina hätte am Leben nicht teilgenommen! Sie ging in Asunción nie aus, hatte keine Freunde, die sie besuchten, sie hörte noch nicht einmal Radio!“

      „Ja, ja, das stimmt ja alles.“ Arthur denkt eine Weile nach. Dann sagt er: „Vielleicht war es mir nur bisher nicht wirklich bewusst, dass es ihr eigener Entschluss war, sich vollkommen auszugrenzen.“

      „Ich fand es, nach allem was du mir über eure Zeit im Hinterhaus erzählt hast, immer ganz offensichtlich, dass sie sich selbst bestrafen wollte, indem sie das Leben einer Büβerin lebte. Sie muss ja sehr wohl mitgekriegt haben, dass andere Stadtbewohner, obwohl sie oft arm waren, so etwas wie Lebensfreude zeigten. Es gab in der Nachbarschaft Feste und Feierlichkeiten, es gab selbst in der nächsten Nachbarschaft Kneipen oder Restaurants in denen getrunken, gelacht und getanzt wurde. Wahrscheinlich hat sie diese öffentlich zur Schau gestellte Lebensfreude als das erkannt, was man bei ihr zu Hause als ‘verderbliches Verhalten’ bezeichnet hatte. Und davor war sie schlieβlich, neben der ‘Unzucht’, immer gewarnt worden, seit sie denken konnte.“

      „Hm. Ja. Sie hat ihre eigenen kategorischen Grenzen gezogen, weil sie die Groβstadt als mögliche Rutschbahn in den Sündenpfuhl gesehen hat.“

      „Musste sie ja! Schlieβlich war vorher, in ihrem Dorf im Chaco alles gut, richtig und gottgefällig gewesen. Hier war alles ganz anders, also schlecht. Aber ganz offensichtlich hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, am Ende doch noch von höherer Instanz als guter Mensch bewertet zu werden. Sie hat ja ihre abendliche Andacht nie versäumt, wie wir von deinem Vater wissen. Auch die permanent gut gelaunte Luisa hatte es längst aufgegeben, sie zu einem Abendspaziergang oder zu einem Plauderstündchen am Lagerfeuer einzuladen. Justina soll bei solchen Angeboten immer nur mit ernster Miene den Kopf geschüttelt und gesagt haben: ‘Ich muss in meiner Bibel lesen, ich will nie wieder meinen Weg verfehlen’.“

      Arthur denkt lange nach ohne ein Wort zu sagen.

      Schlieβlich sage ich: „Übrigens, bei aller Kritik an meiner Schreiberei: Ob es dir passt oder nicht, ich schreibe auch solche Gespräche auf, wie das, das wir gerade geführt haben.“

      „Wenn du meinst“, sagt er nur, zuckt die Achseln und geht aus dem Zimmer.

      Kapitel IV.

       Kapitel 4

      Julius Deisenhofer hatte sein Eintreffen in der Hauptstadt angekündigt. Zwei seiner Arbeiter waren von ihm als Begleiter eines Holztransportes vorausgeschickt worden. Der Verkauf von Brennholz an das staatliche Elektrizitätswerk in Luque machte einen nicht unerheblichen Teil seiner Geschäfte aus.

      Am späten Nachmittag schlenderten zwei Arbeiter, Miguel und Adalberto, gemächlich und mit fröhlichem Grinsen im Gesicht über den Patio zum Hinterhaus. Ganz offensichtlich waren sie nicht zum ersten Mal hier, denn sie kamen unbefangen und wie selbstverständlich bis unter das Vordach. Auch auf das übliche In-die-Hände-Klatschen, welches hier in Paraguay zum guten Ton gehört, um sich bemerkbar zu machen, hatten die beiden verzichtet. Einer der Männer versuchte durch die offen stehende Tür in Luisas Schlafzimmer zu schielen. Maria Celeste bemerkte den Schatten in der Tür, erkannte den Arbeiter und sprang ihm sofort entgegen. Auch ihre Brüder empfingen die beiden mit fröhlichem Geschrei.

      „Morgen kommen Onkel Julio und Tante Christa!“, rief Maria Celeste erfreut, als sie die Nachricht hörte. Adalberto packte das jubelnde Kind daraufhin bei den Händen und drehte sich um sich selbst, so dass Maria Celestes Füβe sich vom Boden lösten und durch die Luft wirbelten. Arthur stand dabei und wurde von ihrem Lachen angesteckt. Da packte ihn Miguel und lieβ ihn ebenfalls an den Händen durch die Luft fliegen. „Du musst Maria Celestes neuer Freund sein! Haben schon von dir gehört, kleiner Weißkopf!“

      Übermütig tobten Deisenhofers Waldarbeiter mit den Kleinen herum und lieβen sich ständig neue Albernheiten einfallen, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Alle wurden von der ausgelassenen Stimmung angesteckt. Selbst Hildegard erhielt von Justina die Erlaubnis, eine Viertelstunde mit den anderen zu spielen. Anfangs stand sie mit schüchternem Lächeln daneben. Aber als Maria Celeste und Arthur beim Packenspielen hinter ihr her jagten, konnte sie auch sie endlich einmal aus vollem Halse lachen. Selbst die Vögel schienen lauter zu zwitschern als sonst, die ganze Luft flimmerte vor Fröhlichkeit.

      Erst kurz vor Sonnenuntergang