Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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zu einer ganz simplen und zufriedenen Lebensweise finden kann.“

      Was bleibt mir nach dieser Feststellung anderes übrig. Ich lasse einen tiefen Seufzer los. „Es sei also. Ich schreibe auf, was du, mein Freund, erlebt und gedacht, angezweifelt und geglaubt, getan oder nicht getan hast. Warum? Weil du mich darum bittest und ich dein Freund bin.

      ABER, ich nehme mir die Freiheit heraus, dich vorab zu warnen: Wir werden um die Wahrheit debattieren, auch streiten, vielleicht feilschen. Und einer wird gewinnen.“

      Nun gut. Fangen wir an, mein lieber Freund Arthur. Zunächst sehe ich mich gezwungen zu wiederholen, was ich aus Erzählungen über dich weiß. Diese Fakten halte ich allerdings nur der Vollständigkeit halber fest, denn, wie du weißt, hat unsere allererste Begegnung im heißen, nordwindgepeitschten Chaco Paraguays stattgefunden. Und ich behaupte, dass mein Dasein erst dann wirklich angefangen hat, nachdem du und ich Freunde geworden waren. Allerdings ist mir bekannt, dass deine Existenz viel früher, weit weg von Paraguay begonnen hat:

       Teil 1

      Kapitel I

       Kapitel 1

      Arthur wurde im Frühjahr 1958 in einem kleinen Nest bei Bielefeld, BRD, auf die Welt gebracht. An seine Taufe in einer kleinen evangelischen Kirche bei Sennestadt kann er sich nicht erinnern. Um den kirchlichen Segen zu seinem Dasein hatte er niemanden gebeten, man hat ihm diesen einfach aufgepfropft – das macht man nun mal so. Obwohl er vermutlich schrie, wie die meisten Säuglinge, denen ein lauwarmes Rinnsal gesegneten Wassers über die dünnen Härchen getröpfelt wird, sprach man später von einem freudevollen Fest. Und an diesem freudevollen Fest sollen folgende Familienmitglieder teil genommen haben: Seine Eltern, zwei Tanten (Schwestern seines Vaters), ein Onkel (Bruder der Mutter), ein Opa sowie eine Oma, die jedoch nicht zusammen gehörten, sondern ihrerseits Vater des Vaters und Mutter der Mutter des kleinen Arthurs waren.

      Arthurs Eltern sollen angeblich glücklich miteinander gewesen sein. Ich bezweifle diese Behauptung allerdings, weil man mir außerdem erzählt hat, die Frau Mutter sei eine kränkliche Person gewesen. Und meiner Meinung nach vermittelt ein glücklicher Mensch selten das Bild einer kränklichen Gestalt. Kurz: sie starb drei Jahre nach Arthurs Taufe, auf der auch das einzige Foto, das Arthur von seiner Geburtsfamilie besitzt, entstanden ist.

      Hier muss ich nachträglich einfügen: Alles Weitere, was ich über Arthurs Mutter gewusst und aufgeschrieben hatte, wurde von Arthur bei der Kontroll-Lektüre (die vermutlich täglich stattfinden wird) kurzerhand gestrichen. „Überflüssig“, war sein ganzer Kommentar!

      Arthurs Vater war seinerseits Sohn eines Kürschners. Das heiβt, der Groβvater besaβ einen kleinen Betrieb, in welchem Pelzjacken und -mäntel hergestellt wurden. Und obwohl Arthur in die Ausläufer des deutschen Wirtschaftswunders hineingeboren worden war, kam der Familienbetrieb in der nordrheinwestfälischen Provinz eher zäh voran.

      Etwa ein knappes Jahr nach nachdem Arthurs Mutter ihren Mann unabsichtlich zum Witwer und den Sohn zum Halbwaisen gemacht hatte, meldete sich bei Arthurs Vater das Bedürfnis, seinen „verlorenen Frühling“ nachzuholen. Wir haben immer angenommen, dass er sich mit Mitte dreiβig zu jung fühlte für das Leben, das er führte. Er soll Arthur einmal erzählt haben, die gesamte Atmosphäre im Hause des Großvaters habe dunkel und niederdrückend auf ihm gelastet. Die Großfamilie schien ständig um irgendwas zu trauern. Ob die Trauer eine Art Grundhaltung war oder wirklich seiner Mutter galt, hat Arthur von seinem Vater nie erfahren, somit konnte er mir darüber auch nichts weiter erzählen. Jedenfalls stand dem jungen Witwer nicht der Sinn danach, sein Dasein in einer permanent Trübsal blasenden Familie und in immer gleichem Alltagstrott zu verbringen. So konnte es doch nicht bis ans Ende seiner Tage weitergehen. Er wollte etwas ganz „Neues“. Vorerst weniger von den Frauen, sondern viel weitgreifender: Ein ganz und gar neues Leben.

      Über Bekannte aus seiner Gegend hörte er damals von einem Land jenseits des Ozeans, wo es noch so etwas wie eine echte Wildnis geben sollte. Vermutlich wurde ihm diese Wildnis in schillernden Farben und voller Lagerfeuerromantik beschrieben. In einer echten Wildnis gibt es auch echt wilde Tiere. Wo es wilde Tiere gibt, muss es natürlich auch mutige Jäger geben. Den Jägern in diesem Land, so hieß es ebenfalls, sollten die Wildtierpelze praktisch vor die Flinte springen.

      Paraguay, mitten in Südamerika. Begeistert lauschte Arthurs Vater den Geschichten, die ehemalige Abenteurer von dort zu erzählen hatten, wenn man sich nach Feierabend in einer Kneipe in Sennestadt oder Asemissen traf. Dass diese Abenteurer in ihrem Alltag in Südamerika keine wild-romantischen Jäger gewesen waren, sondern brave und arbeitsame Familienväter, die allenfalls mal am Wochenende in den Busch gefahren waren, haben die Rückkehrer nicht besonders deutlich betont. Ich frage mich heute, ob Arthurs Vater diese zurückgekehrten Siedler je nach dem Grund ihrer Heimkehr nach Deutschland gefragt hat.

      Die romantische Vorstellung, das väterliche Unternehmen von Südamerika aus mit Pelzen beliefern zu können, begann in seinem Hirn zu wachsen und zu wuchern wie ein Tumor. Immer wieder brachte er die zurückgekommenen Auswanderer dazu, über ihre Erlebnisse in Südamerika zu sprechen. Immer wieder düngte er dadurch den aufkeimenden Wunsch nach einem Dasein ohne die Enge des Alltags. Der wachsende Traum von seinem Leben als Jäger im neuen El Dorado hieβ Freiheit, Weite, Frauen, vielleicht Liebe... Aber auf keinen Fall täglich wiederkehrendes Einerlei, täglich wiederkehrende Aufgaben im Betrieb, dieselben Handgriffe, dieselben Gesichter, dieselben Gespräche.

      Er malte sich sein Utopia allerdings vorerst ohne seinen inzwischen dreijährigen Sohn Arthur. Schlieβlich hatte er zwei Schwestern. Und jede Frau, so glaubte er, würde mit glückseliger Bereitschaft an die Aufgabe herantreten, sich auf unbestimmte Zeit um das mutterlose Kind ihres Bruders zu kümmern. Falsch.

      Der aufregende Traum vom El Dorado in Südamerika wurde, wie nicht anders zu erwarten, von der ganzen Familie als idiotisch bezeichnet. Schließlich hatte er nichts zu beklagen. Sicheres, wenn auch nicht allzu üppiges Einkommen im Familienbetrieb, geregelte Altersversorgung, garantierte ärztliche Versorgung, und nicht zuletzt ein gemütliches Eigenheim – alles das aufzugeben, nur um irgendwo im Urwald auf Abenteuersuche zu gehen, und dabei auch noch das Kind zurückzulassen, wurde von allen als Spinnerei eines frustrierten Witwers abgetan. Und wenn er schon verrückt genug war, an diesem irrigen Vorhaben festzuhalten, dann müsse er auch fair genug sein, die Zukunft seines Sohnes im Voraus abzusichern, indem er von seinem Anspruch auf Anteile des gesamten Familienvermögens zurücktrete. Kinder kosten schließlich Geld. Und nur zu bald würde sich das niedliche Kleinkind in einen Jungen mit ständig wachsendem Appetit und scheinbar kürzer werdenden Hosenbeinen verwandeln.

      Arthurs Vater hatte jedoch seine Anteile am Erbe schon in die Berechnungen für Reisekosten und als Startkapital in Südamerika fest eingeplant.

      Streit folgte.

      Streit um die Verantwortung für den jüngsten Erben in der Kette.

      Streit um die vorgezogene Auszahlung von Anteilen am Erbe.

      Streit um die geschätzte Höhe des Erbes.

      Streit insgesamt um den idiotischen Wunsch nach Paraguay in Südamerika auszuwandern. Terra Incognita, die Arthurs Vater bis dahin nur als kleinen blassen Fleck auf der Landkarte gesehen hatte und nun auf einmal sein „gelobtes Land“ darstellte.

      Trotz alledem waren Arthurs Vater und Groβvater irgendwie in finanziellen Fragen übereingekommen. Und was den kleinen Arthur betraf, so hatte sein Vater letztendlich beschlossen, ihn einfach mitzunehmen. In Paraguay würde er das wachsende Problem schon irgendwie mit Kindermädchen oder Erzieherinnen lösen.

      Die Überfahrt mit dem Schiff von Amsterdam nach Buenos Aires in Argentinien sollte etwa fünf Wochen dauern. Von dort aus war es nur ein Katzensprung nach Paraguay. Zumindest auf dem Globus, der im Wohnzimmer stand. Andererseits bestand auch die Möglichkeit zu fliegen. In der Hauptstadt Asunción sollte es einen internationalen Flughafen geben. Aus Kostengründen zog Arthurs Vater die Schiffsreise jedoch vor. Auf dem Schiff, versuchte er sich einzureden, würde