Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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wie im Flieger.

      Kurz und gut: Am 2. März 1962, zwölf Tage vor Arthurs viertem Geburtstag, bestieg Arthurs Vater mit seinem weinenden Kind auf dem Arm in Amsterdam den Dampfer, der als Linienschiff unter argentinischer Flagge fuhr und die beiden nach Buenos Aires bringen würde.

      Die Fahrt über den Ozean soll ohne gröβere Komplikationen verlaufen sein. Jedoch war der kleine Arthur schwer seekrank geworden, soll fast eine Woche lang jegliche feste Nahrung verweigert haben, was bei einem knapp vierjährigen Kind natürlich Anlass zu gröβter Sorge bedeutet. Erst einen oder zwei Tage vor seinem Geburtstag sei die Magenverstimmung langsam abgeklungen. Ich wage zu behaupten, dass an dem Aufruhr seiner Innereien nicht allein der Seegang schuld gewesen ist.

      Drei Tage nach dem geplanten Ankunftstermin gelangte das Schiff in den Hafen der Rio-de-la-Plata-Bucht. Die Südamerikaner haben diese drei Tage wohl kaum als Verspätung angesehen, denn Zeit- und Terminpläne sind bei nicht wenigen Südamerikanern nur ein relativer Anhaltspunkt für zukünftige Ereignisse. Wie dem auch sei, Arthurs Vater soll total erschöpft an Land gegangen sein. Seine neue Aufgabe als alleinverantwortliches Elternteil hatte sich nicht gerade als das erwiesen, was er sich vorgestellt hatte: mehr oder weniger eine Nebensächlichkeit.

      In Buenos Aires machte er sich sofort auf die Suche nach einer billigen Bleibe in der Nähe des Hafens. Dort drückte er einer jungen Hausangestellten sein Kind und zwei, drei Dollarnoten in die Hand, dann machte er sich zu einem Hafenrundgang auf. Er bekam heraus, dass schon am späten Vormittag des nächsten Tages ein kleines Schiff in Richtung Asunción auslaufen sollte.

      Die Fahrt auf einem umgebauten Frachtkahn, der einem paraguayischen Reederei-Betrieb gehörte und die beiden von Buenos Aires nach Asunción bringen sollte, muss auf Arthurs Vater tiefen Eindruck gemacht haben. Denn dieses Flussschiff war sozusagen das erste Stück Paraguay, dem Arthurs Vater begegnete.

      Mir hat Arthur viel später grinsend erzählt, sein Vater habe die neuntägige Flussfahrt als regelrechten Kulturschock erlebt. Hier auf der „Lancha“ erwies sich als einzige Ordnung, dass täglich drei Mahlzeiten im Speisesaal serviert wurden. Die teilweise romantischen Vorstellungen und Träume vom Leben auf einem fremden Kontinent, denen er sich im kalten Europa hingegeben hatte, machten nach und nach eher ängstlichen Überlegungen Platz. War es vernünftig gewesen, auf´s Geratewohl alle Zelte in der Heimat abzubrechen, um gerade in Paraguay etwas völlig Neues und Aufregendes zu erleben? Würde Paraguay so angenehm und exotisch sein, wie der Name klingt? Der Frachtkahn jedenfalls war alles andere als angenehm oder exotisch.

      Die wenigen Kabinen waren vollkommen überfüllt, die Menschenmenge an Deck verhielt sich bei der Abreise wie ein aufgeregtes Ameisenvolk, nachdem irgendwer mit einem Stock im Haufen herumgestochert hat. Jeder Quadratzentimeter auf dem Oberdeck wurde entweder von emsig hin- und herlaufenden Menschen oder herumstehendem Gepäck in Beschlag genommen. Inmitten dieses Gewühls stand Arthurs Vater recht verunsichert herum, überlegte immer wieder, was er auf Spanisch sagen oder fragen würde, um zu erfahren, wohin er sich wenden musste, damit er den eigens für ihn reservierten Platz auf diesem fremdartigen Schiff finden konnte. Niemand interessierte sich für einen „Entschuldigung“ murmelnden Gringo, der mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem von Stempeln, Unterschriften und Steuermarken übersäten Blatt Papier in der Hand versuchte, seine Kabine zu finden. Und noch viel weniger interessierte man sich dafür, warum ebendieser Gringo in lauten Protest ausbrach, als er endlich die Tür zu seiner Kabine gefunden und geöffnet hatte. Auf dem Bett in seiner Kabine lag schon jemand, in voller Kleidung, nur die offensichtlich frischgeputzten Schuhe ragten über den Bettrahmen hinaus bis fast an die Tür. Der Fremde im Bett war, trotz des Stimmengewirrs ringsherum, fest eingeschlafen, denn er schnarchte hörbar.

      Nach einigem Hin und Her soll es Arthurs Vater gelungen sein, die Kabine allein für sich und seinen Sohn zu beanspruchen. Schließlich hatte er erster Klasse gebucht und bezahlt! Dennoch: so manche Beobachtung an Bord, die er in den kommenden Tagen machen sollte, hätte ihm zuhause das Gefühl gegeben, eine Beschwerde sei nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu seine Pflicht. Hier wusste er jedoch nicht einmal, ob irgendjemand den Sinn seiner Proteste verstand. So hatte er beispielsweise mehr als einmal beobachtet, wie Kellner sich im Speisesaal ungeniert mit den Geschirrtüchern die schweiβnasse Stirn, Hals und Nacken trockenwischten, um gleich darauf Tassen, Teller oder Besteck mit demselben Tuch zu polieren. Das Wasser, das den Passagieren in groβen Kannen aus Zink zum Trinken angeboten wurde, schöpfte man direkt aus dem Fluss, und zwar meist hinten am Heck, während vorne auf dem Kahn die erbärmlich stinkenden Toiletten eingerichtet waren, deren Inhalt selbstverständlich direkt im Fluss landete.

      Wie können die alle so zufrieden aussehen, fragte er sich, während er an der Reling entlang über das Deck schlenderte. Möglichst unauffällig beobachtete er dabei die Mitreisenden: Fast alle machten einen irgendwie ärmlichen Eindruck, trotzdem wirkte keiner bedrückt oder sorgenvoll. Sie redeten die ganze Zeit laut miteinander, und immer wieder brach irgendjemand in haltloses Gelächter aus. Erst viel, viel später würde er begreifen, dass ein Groβteil der paraguayischen Landesbevölkerung zwar ausgesprochen unzufrieden mit der angeborenen Armut sein mag, sich aber mit beinahe achselzuckender Ergebenheit dem Schicksal fügt. Und in der Gesellschaft von anderen, ebenso armen Schicksalsgenossen, macht man das bloβe Zusammensein zu einem nie endenden Fest. Nichts geht über Gesellschaft und Geselligkeit.

      Immer lauter werdende Zweifel bohrten sich durch seinen Kopf. Wie ein Moskito, der im endlosen Schweigen der Nacht immer näher kommt, schienen die zweifelnden Fragen immer bedrohlicher zu werden. Was, wenn er einen riesigen Fehler gemacht hatte? Was, wenn er sich in diesem fremden Erdteil, unter diesen fremden Menschen nie wirklich zu Hause fühlen würde. Was, wenn er eines Tages feststellen musste, dass er nur noch von der alten Heimat träumen konnte? Hatte er zu impulsiv gehandelt? Die Zweifel wurden durch die Frauen an Bord ein wenig gemildert, denn die mitreisenden Señoras kümmerten sich mit Begeisterung um seinen kleinen Sohn. Sobald der kleine blonde Engel mit den strahlenden, fast dunkelblauen Augen am frühen Morgen auf Deck erschien, wurde er dem Vater buchstäblich aus der Hand gerissen, hingebungsvoll umarmt, geküsst, herumgetragen, mit allen möglichen Leckerbissen verwöhnt, und von den eigenen Kindern der Frauen zum Spielen eingeladen. Und Arthur schien sich wohl zu fühlen inmitten der allesamt schwarzhaarigen Kinder, die auf dem abgeblätterten Holzfußboden saβen und mit Blechbüchsen, Stoffpuppen, Holzautos oder einfach nur mit sich selbst spielten. Rings um die Gruppe spielender Kinder herum stellten die Frauen dann ihre Klappstühle oder aus Korb geflochtenen Hocker auf und grenzten auf diese Weise eine kreisförmige Spielfläche ab. Sie wedelten mit langstieligen, bunt angemalten Fächern aus geflochtenen Palmenfasern die Hitze oder Moskitos weg, schwatzten pausenlos miteinander, immer wieder wurde gekichert, manchmal auch schwermütig geseufzt, wenn eine von ihnen gerade ein Familiendrama beschrieb, um kurz darauf wieder über ein anderes Gesprächsthema zu lachen. Ganz selten hörte man auch einen Schwall von Beschimpfungen auf eines der Kinder niedergehen, welches durch irgendeine Handlung den Unmut der Frauen verdient hatte. Erziehungsarbeit war genauso ein gemeinschaftliches Unternehmen wie die Beaufsichtigung der kleineren und größeren Kinder.

      Die Ehemänner dieser Frauen saßen fast den ganzen Tag über in kleinen Gruppen zusammen und spielten Karten oder etwas, das aussah wie selbstgebastelte Dame-Spiele aus einem mit Kästchen bemalten Brett und Kronkorken-Deckeln von Sinalco-Flaschen. Manchmal versuchten sie, Arthurs Vater in ihre Gesprächs- oder Kartenrunden einzubeziehen, die Versuche endeten jedoch meist in hilflosem Gestammel.

      Arthurs Vater hatte zwar schon auf der Fahrt über den Ozean versucht, möglichst viele spanische Vokabeln aus einem mitgebrachten, inzwischen leicht zerfledderten Wörterbuch zu lernen, irgendwelchen Unterhaltungen konnte er aber noch nicht folgen. Außerdem hatte er das Gefühl, nicht eine einzige der gelernten Vokabeln hatte auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit der Sprache, die hier an Deck gesprochen wurde. Das Auswendiglernen spanischer Wörter wollte ihm immer sinnloser erscheinen. Was er nicht wusste: Die meisten Reisenden um ihn herum sprachen fast ausnahmslos ein Spanisch, das stark vom Guaraní, einer indianischen Sprache, durchwachsen war. Alle Gesprächsversuche blieben erfolglos.

      Arthurs Vater verbrachte also die Stunden zwischen den nicht gerade üppigen Mahlzeiten in angebrachter Entfernung zu den Frauen (und seinem Sohn) auf dem Schiffsdeck. Dort stand er, um