»Haha, was willst du hier? Hast du nichts besseres zu tun, zum Beispiel in die Stadt zu gehen?«
»Ja, mach ich auch gleich, ich wollte vorher aber noch freundlicher Weise fragen, ob ich dir irgendetwas mitbringen soll?«
»Nene, geh nur.«
»Jaja ist ja gut, dann schmoll mal in Ruhe weiter.«
Kaum war er wieder alleine, ließ er seinen Kopf wieder zurück fallen und schaute müde zum grauen Himmel. Er kniff seine Augen zu, verzog seinen Mund und zog sein gesamtes Gesicht zusammen. Er wollte schreien, weinen, irgendetwas, suchte nach irgendeinen Ausdruck, irgendetwas – doch da war nichts, bloß Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die ihm gegen die Brust drückte, ihm das Atmen schwer machte. Mit aller Kraft spannte er seinen ganzen Körper an, er zitterte, bebte geradezu … dann ließ er wieder los. Nichts – nichts passierte. Er fühlte sich schlapp, müde, ausdruckslos. Was war das bloß für eine Müdigkeit, die ihn einfach nicht los ließ, Besitz von ihm ergriff und jeden seiner Gedanken einnahm. Sie hielt ihn gefangen. Immerhin war keine Sonne da, die ihn noch hätte höhnisch auslachen können.
Er verließ den Himmel und richtete seinen Augen wieder auf den Hafen – unspezifisch und leer, er rührte nicht einmal seinen Kopf, ließ ihn einfach nach oben gerichtet an der Wand liegen. Alles lief grau geordnet weiter, die gleichen Menschen, die gleichen Geräusche, die gleichen Farben. Er atmete flach aus. Vielleicht – – Er erinnerte sich, auch da war es grau – Der Traum selbst, nicht nur seine Decke, war grau – aber da war noch etwas neben dem Grau – Das Gefühl, das gegen seine Brust drückte, ihm das Atmen erschwerte, keine Leere, kein Nichts, es war mehr ein Brennen, als würde ihm die Brust brennen ›da war noch etwas anderes neben dem Grau‹ Dann ließ er den Gedanken plötzlich fallen, richtete sich auf und schaute, nur ganz kurz, aber ganz konzentriert, gerade aus. Er traute sich kaum zu atmen. Dann ließ er seinen Blick fallen und schaute zum nassen Boden, bevor er wieder in seine alte Position zurückkehrte. Für einen kurzen Moment hatte er gedacht in dieser grauen leeren Masse einen kleinen Jungen gesehen zu haben, der mit einem roten Luftballon über den Hafen lief, doch er hatte sich versehen, es war bloß eine weitere Kiste gewesen, an deren Seite ein rotes Plakat befestigt war.
›Dieser beschissene Traum.‹ Der ganze Tag war von ihm gezeichnet und dabei konnte er sich gar nicht mehr an seine Einzelheiten erinnern, nur die Wunde an seiner Lippe erinnerte ihn an seine groben Züge.
»Wir sind ja noch ein paar Tage hier zusammen eingesperrt. Da wird das bestimmt nochmal klappen.«, hatte sie nur lachend zu ihm gesagt. Es schien sie gar nicht zu stören.
Wieder spannte er seinen Körper an. Verkrampfte jeden Muskel. Er wollte aufstehen, schreien, gegen die Wände schlagen; er traute sich nicht. Er hatte zu viel Angst, dass ihn einer der Arbeiter im Hafen oder noch schlimmer, einer seiner Kollegen auf dem Deck sehen könnte. Denn nicht alle waren von Bord gegangen. Er saß ganz still auf der Bank, völlig verkrampfend vor Spannung –
»Hey«
Sofort ließ er die ganze Spannung fallen und schaute überrascht über seine Schulter. »Was machst du denn hier? Ich dachte du wärst schon längst in der Stadt?«
Leise, aber noch deutlich für ihn sichtbar, lachte sie in sich hinein. »Wollte ich eigentlich auch erst –« Sie wich ganz leicht einen kleinen Schritt zurück, »aber dann dachte ich mir, dass du ein bisschen Gesellschaft gebrauchen könntest.«
Er schwieg, schaute sie noch einen kleinen Augenblick an und wandte sich dann wieder zum Hafen.
»Oder möchtest du lieber allein gelassen werden?«
Er wusste nicht warum er sich schweigend, ohne jedes Zeichen der Freude umgedreht hatte. Natürlich wollte er, dass sie sich zu ihm setzte, aber – – – Die ehrliche Antwort war: er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er jetzt in diesem Moment, in diesem Augenblick wollte. Es war nicht nur sein Traum, der ihm eine andere Vorstellung eingenistet hatte, ss war das Schiff.
»Kennst du dieses Gefühl, wenn du für einen kurzen Moment direkt in die Sonne blickst, dich aber sofort wieder abwenden musst, weil sie in deinen Augen brennt – und wenn du dann wieder normal aufschaust, siehst du nichts mehr. – – Nein, „Nichts“ ist nicht richtig, du siehst etwas, aber alles ist noch verschwommen und in einen unsichtbaren Nebel gehüllt?«
Er wollte nicht, dass das Schiff der Ort ihres Beisammenseins, – was für eine schreckliche Bezeichnung – ihrer Liebe sein würde. Sie sollte nicht von diesem Ort bestimmt werden, nicht von ihm festgehalten werden. Sie sollte auch an einem Ort existieren, an dem man einfach davon laufen konnte und nicht gezwungen war, Zeit miteinander zu verbringen, weil man vom Meer um einen herum eingeschlossen war.
Ohne zu lächeln hatte sie ihn angesehen und sich neben ihn gesetzt.
Er hatte, seinen Kopf immer noch an die Wand angelehnt, seine Hände in den Taschen, sich vom Meer abgewandt und zur grauen Wolkendecke hochgeschaut. Erst als er ihre warmen Beine an seinen spürte, wusste, dass sie sich zu ihm gesetzt hatte, dass sie ganz nah war, richtete er seinen Kopf auf und schaute sie an. Sein Blick war leer und gedankenversunken. Es lag weder Trauer noch Freude in seinen Augen. Sie erwiderte seinen Blick, hielt ihm stand, lächelte ihn dann ganz sanft an, umschlung mit ihren Armen seinen Arm und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
»Wo bist du bloß grad? – Du wirkst immer so weit weg, so dass niemand wirklich zu dir durchdringen kann. Sei doch mal ganz hier.«
Sein Blick hing leer in der Luft.
›Hier?‹ – wo war dieses „Hier“ und war nur sie da oder auch noch andere? Was wusste sie schon von diesem „Hier“, sie war doch immer noch eine Fremde. Es ist einfach von einem Hier zu sprechen, wenn man nur einen Ort kennt, aber was
»und außerdem macht es eh keinen Spaß bei diesem Mistwetter in die Stadt zu gehen.«
Er lachte. »Du sollst ja auch nicht nur blind herumrennen«
wenn es mehr Orte gibt, wenn man nie nur an einem, sondern immer an zwei, drei oder wer weiß wie vielen Orten ist.
(Kapitel 4 – Undine)
Der Exzess in seiner höchsten Form, der Überfluss am Genuss führt unweigerlich zum Tod, zur Qual, zur Destruktion. Das Warten und das Verlangen sind viel schöner als der eigentliche Akt – das masochistische Warten, die Vorstellung der Möglichkeit, die Vorstellung der Tat.
Strömend prasselte das heiße Wasser auf ihn nieder, massierte seine Stirn, lief über seine Augen, an seiner Nase entlang, über seine Wangen und Lippen. Dann fuhr er sich mit seinen Händen übers Gesicht und wischte das Wasser herunter, bevor er seinen Kopf zu Boden fallen ließ. Massierend schlug es jetzt in seinen Nacken. Er stütze sich an der Wand vor ihm ab und schaute auf dem weißen marmornen Boden. Ganz still stand er so für einige Augenblicke, bevor er den Wasserhahn schloss und sich aufrichtete. Langsam tropften die letzten warmen Reste an ihm herunter, während er sie leicht von sich strich und erleichtert ausatmend aus der Dusche trat. Das Handtuch war rau und trocken, so dass er jede Faser an seinem Körper spürte. Den beschlagenen Spiegel bemerkte er erst, als er wieder trocken war. Mit dem Handtuch noch über seine zerzausten Haare fahrend, betrachtete er die verschwommene Gestalt im Spiegel. Während er die Gestalt beim Heraustreten aus dem Nebel beobachtete, rutschte das Handtuch von seinen Kopf und legte sich um seinen Hals. Langsam löste sich der Nebel auf. Ganz ruhig und entspannt fuhr er sich durch die Haare und legte sie sanft zurecht, ohne dabei die Gestalt aus den Augen zu verlieren. Sie folgte ihm. Gedankenleer starrte er in ihre nackten Augen.
›Wie merkwürdig, dass man sich selbst nie in die Augen sehen kann.‹ Wie die erste Schneeflocke im Winter, fiel der Gedanken auf ihn nieder und trat in die Leere, bevor sie unter den Anderen im wilden Schneegestöber verschwand. ›Wie kann es sein, dass man immer nur ein Auge zur selben Zeit sehen kann?‹ – stumm starrte er das rechte Auge an. ›Wirklich sehen, das andere verschwindet ja nicht, aber es hängt doch bloß leer im Hintergrund,