›Kein Wunder, dass sie mich nicht bemerken, wie sollten sie auch, wenn sie schon an sich selbst vorbeilaufen. Jeden Tag leben sie das immer gleiche Leben, sehen die immer gleichen Gesichter, machen die immer gleiche Arbeit und schlafen im immer gleichen Bett. Flüchten von einem Tag zum nächsten, in der Hoffnung, sich selbst nicht einzuholen. Deswegen ist ihnen der Boden auch so lieb, denn von dort fällt man nicht so hart.‹ »Lauft nur! Lauft! –Platz heißt Flucht! Die Zukunft wird doch immer vor euch liegen.« ›Egal wohin du läufst, sie wird immer vor dir liegen.‹
Er blickte auf – vor ihm flog ein kleines Stück Papier, das leicht vom Wind getragen, über die Straße tanzte – und seufzte.
»Hier bin ich nur ein salziger Tropfen in einem Becken voll Süßwasser, ein süßer Tropfen im salzigen Meer. Ich kann nicht das Leben eines anderen leben, nur weil ich Angst habe vor einer Entscheidung! – einer Entscheidung, die längst entschieden ist.«
–
Da stand er nun vor seiner Zukunft, diesem weißen Fleck auf seinem Schreibtisch.
Es war bereits einige Zeit vergangen, seitdem er versucht hatte auf einem Schiff anzuheuern. Er wollte ausbrechen, die Ewigkeit spüren, den süßen Atem des Salzes riechen und die goldene Zunge der Dämmerung küssen. Er wollte jeden Morgen aus seinem Bullauge sehen und das Gefühl haben, dass die ganze Welt vor und hinter ihm liege. Frei zu sein, sich für eine Richtung entscheiden zu können. Doch dieses Vorhaben war gar nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Von ihrer Schwierigkeit hatte er sich bereits vor Jahren überzeugen dürfen. Ganz naiv hatte er damals ohne jede Ausbildung versucht Heuer zu finden. Natürlich versank dieser Versuch unbemerkt im Meer. Niemand interessierte sich für einen unerfahrenen Matrosen. Die romantischen Zeiten, wo jeder, sofern er kräftig genug war, einfach irgendwo anheuern konnte, waren längst vorbei. Die Welt war gewachsen und die Ozeane geschrumpft. Es war ihm also gar keine andere Wahl geblieben: wollte er aufs Meer, musste er sich darauf vorbereiten. Er hatte fast alle Hoffnung aufgegeben, sich mit seinem Käfig abgefunden, als dann ein Brief für ihn kam. Ein kleiner weißer Umschlag, der schon vor ein paar Tagen bei ihm angekommen war und seitdem auf seinem Schreibtisch lag – ungeöffnet. Jetzt stand er vor diesem Umschlag, der zu einem Fleck verkommen war und sich perfekt in den Rest seiner Wohnung integriert hatte. Starr vor Angst glotze er ihn an. Dann atmete er plötzlich tief durch, löste sich aus seiner Spannung, setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch und nahm völlig entspannt den Brief in seine Hand.
Langsam fuhr er mit seinen Fingerspitzen an den äußeren Kanten des Umschlages entlang, bevor er ihn mit einem leichten Schwung umdrehte und auf die Versiegelung blickte. Ohne klaren Gesichtsausdruck hielt er sie mit seinem Blick fest – Dann ging alles ganz schnell: mit einem gewaltigen Ruck riss er den Brief auf, so dass eine kleine Ecke vom Briefpapier mit hinfort gerissen wurde, zog hektisch, aus Angst den Mut zu verlieren, das Papier aus dem Umschlag und entfaltete es. Seine Hände zitterten. Seine Augen strömten über das Papier, rasten orientierungslos hin und her, bis er sich plötzlich zurückfallen ließ, stöhnend aufatmete und der Brief am Ende seines nun kraftlosen am Stuhlrand herunterhängenden Armes, langsam zu Boden segelte.
Ausdruckslos saß er da. In diesem Moment ging es ihm gar nicht mehr um den Brief, er war einfach nur erleichtert von dieser ihm alle Nerven-raubenden Aufgabe befreit zu sein. Er hatte sich den Brief auch gar nicht durchgelesen, sondern nur wild nach einem Ja oder Nein gesucht. Er war angenommen.
–
Langsam versank die Stadt im dämmernden Tag. Die letzten Sonnenstrahlen färbten die Häuserkanten in ein dunkel-leuchtendes Violett und der sanfte Sprühregen ließ die Luft glühend rot leuchten. Einsam flog eine Krähe über die in der Dämmerung verschwindenden Dächer.
In dieser Atmosphäre stand er am Fenster und schaute der Stadt beim Einschlafen zu. Kleine Spatzen hatten inzwischen die Plätze der spielenden Kinder am Brunnen eingenommen, singend tanzten sie auf dem Wasser. Immer noch liefen vereinzelt Menschen durch die Straßen, verlorene Wanderer des sterbenden Tages. Still blickte er auf die Blüten der Baumäste, die herausragende Kirche, die Häuserreihen, die durch das Licht in den Zimmern Einblicke in die Leben Unbekannter gaben – er liebte es in diese Fenster zu schauen und sich die Geschichten zu ihren Leben zu erzählen. Die Menschen wirken so unbefangen und unbeschwert, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, so selbstbewusst und frei. Ein gelber Kran ragte neben der Kirche hervor und kratze am goldenen Horizont in dem die Krähe schwamm. Leicht konnte er die Umrisse der umliegenden Landschaft erkennen und wenn alles einen, nur einen Moment lang schwieg, konnte er sogar das leise Rauschen des Meeres hören.
Reglos starrte er noch, als auch die letzten Strahlen der Sonne verschwunden waren und von den grellen Lichtern der Laternen ersetzt wurden, einige Zeit in die Finsternis hinein. Langsam legte sich ein breites und tiefes Lächeln auf sein Gesicht. Er war Glücklich – warum oder worüber war unwichtig.
(Kapitel 1 – Meridian)
Es gibt zu viele kleine Welten, die es einem unmöglich machen genau zwischen ihnen zu leben. Darin liegt die wahre Einsamkeit: Nicht seine eigene Welt zu sein.
Die Sonne stand direkt über dem Hafen und brannte heiß auf ihn nieder. In der Luft lag ein sanfter Sand- und Salzgeschmack. Verschwitzt und mit angestrengten Gesichtern quetschten sich die Menschen wild aneinander vorbei. Der Schweiß diente als wunderbares Schmiermittel, das die Reibungen verringerte und die Menschen wie nasse Fische in der Hand hindurchglitschen ließ. Es war Mittag, er hatte wenig geschlafen und keine Zeit mehr zum Essen gehabt. Verzweifelt stand er in der sich in alle Richtungen bewegenden Masse und suchte nach Orientierung. Er streckte sich, drückte sich mit seinen Zehen hoch, doch er bekam keinen Überblick. Er wusste nicht wie spät es war, er hatte keine Uhr dabei, er besaß nicht mal eine. Wie er rechtzeitig wach geworden war, wusste er selbst nicht. 13 Uhr stand im Brief – 13 Uhr was? Er überlegte, ob er jemanden fragen oder einfach in Richtung der drei großen Schiffe gehen sollte.
Unentschlossen schaute er in die Menge. In diesem Gewimmel war es eh vollkommen unmöglich jemanden zu fragen. Überall hingen Gesprächsfetzen in der Luft, flüchtige Blicke fielen von einem Ort zum nächsten und ständig stiegen sich die Menschen, auf der Suche nach etwas nicht Identifizierbaren, gegenseitig auf die Füße. Sie würde ihn einfach verschlucken und am anderen Ende wieder ausspucken. Er würde einfach zwischen den glitschigen, nassen Fischen hindurchtanzen, die ihm, am Boden zappelnd, Beifall klatschen würden. Zumindest dachte er das. Stattdessen prallte er einfach an der Masse ab, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Es gab keine Lücke, durch die er hätte hindurch tanzen können. Zurückgestoßen auf seinen alten Platz schaute er erneut, verzweifelt durch die Köpfe zu den Schiffen. Wenn er doch nur wüsste, wie spät es war – so stand er, gezwungen eine Lösung zu finden, vor der Menschenwand und suchte nach einem versteckten Weg. Sorgsam schaute er auf die Menschen, die an ihm vorbei strömten, konzentrierte sich auf jede einzelne Bewegung, jede einzelne Berührung. Langsam löste sich die wilde Masse auf, langsam nahm sie Struktur an, begann Sinn zu ergeben. Stück für Stück löste sie sich vor ihm auf und zergliederte sich in immer kleiner werdende Strömungen. Sie fing an sich vor ihm zu teilen, ihm ihre geheime Struktur preiszugeben. Es war keine sich auf wild durcheinander rennende Menschen beschränkende Masse mehr, keiner lief dort allein, wild oder willkürlich. Es waren kleine Gruppen, die alle zwar in eine eigene, aber bestimmte Richtung rannten. Während die Masse wild und gehetzt wirkte, wirkten die einzelnen Gruppen ruhig und entspannt. Es war eine gewaltige Struktur, die sich vor ihm öffnete, eine Struktur, die keine Regeln, kein Gesetz besaß. Ein natürliches Durcheinander, das nie ihre eigene Form verlor, getrieben von den verschiedenen Richtungen, den verschiedenen Zielen, die sich ständig schnitten, sich erstaunlicherweise aber nie tödlich verletzten. Immer wieder öffneten sich die ansonsten geschlossenen Ströme, um dem Gegenüber zu diesem wilden Tanz aufzufordern – kleine unscheinbare Gesten, ein Lächeln, ein freundlicher Blick, manchmal sogar eine konkrete Handbewegung, die jeden Einzelgänger mit in ihre eigenen Reigen einladen wollte, bevor sie sich wieder schlossen. Fast war es ein Kampf, um den neuen, den unbekannten Tänzer – ein Kampf, der von allen Seiten rief: Wer bist du? Lass mich dich kennenlernen! Diese Struktur eröffnete ihm