Ich schüttelte den Gedanken ab. Das brachte jetzt sowieso nichts. Niemand sagte ein Wort, während wir die vielleicht fünfhundert Meter bis zum Ende der Welfenallee gingen. Von weitem sah man bereits den Wald, der direkt an das Grundstück grenzte. Jetzt wussten auch unsere beiden Hunde, wohin es ging. Schließlich war gleich dahinter das Hundeauslaufgebiet. Jever zog an der Leine und japste, und Lazy ging so schnell, dass er sogar mit uns Schritt hielt.
Je näher wir der geheimnisvollen Stelle kamen, desto unruhiger wurde ich. Ich hatte mehr als eine Ahnung, dass wir etwas vorfinden würden, womit wir nicht gerechnet hatten. Mit jedem Schritt spürte ich es stärker. Meine Augen verschwammen bereits, so angestrengt starrte ich voraus in der Hoffnung, das Haus endlich erkennen zu können.
Dann bekam ich Gewissheit.
„Sie haben es abgerissen!“, rief Janine.
Erst dachte ich, das kann nicht sein. Doch dann, nachdem wir noch einige Dutzend Meter weitergegangen waren und unsere Schritte immer langsamer wurden, erkannte ich, dass Janine Recht hatte. Das Haus, so wie wir es kannten und so wie ich es mit Tommy zusammen bei unserem letzten Gang zum Hundeplatz noch gesehen hatte, existierte nicht mehr.
„Es war alles umsonst! Alles umsonst ... “, murmelte Sanne, den Tränen nahe.
„Keine Panik“, versuchte Tommy sie zu beruhigen. „Es war schon mal ganz verschwunden. Und im nächsten Moment stand es wieder da, als wäre nichts geschehen.“
Da hatte er Recht. Ich dachte unwillkürlich an den Moment, wo ich in den Brunnen steigen musste und geglaubt hatte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen. Mann, war das knapp gewesen! Doch jetzt sah die Sache ganz anders aus.
„Jemand muss das Grundstück gekauft haben“, sagte ich enttäuscht. „Und jetzt haben sie das alte Haus abgerissen und bauen ein neues drauf.“
Inzwischen waren wir am Waldrand angekommen und standen direkt vor der dicht gewachsenen Buchsbaumhecke, die das große Grundstück einfasste. Zwei Seiten waren vom Wald gesäumt, die dritte grenzte an die Straße und nur eine besaß einen direkten Nachbarn, von dem aber kaum etwas zu sehen war, da große Ahornbäume die Sicht versperrten. Ich war froh, dass man das Grundstück selbst schlecht einsehen konnte und dass sich kaum jemand hierher verirrte. Auf den Hundeplatz gingen die meisten Hundebesitzer erst am Nachmittag. Es wäre verdammt unangenehm geworden, wenn uns jemand erkannt und unseren Eltern so nebenbei gesagt hätte, dass wir hier rumstromerten.
Jever und Lazy wurden ungeduldig, und da sie hier eigentlich nichts anstellen konnten, ließen wir sie von der Leine. Sofort krabbelte Jever durch ein Loch in der Hecke und begann, auf dem Grundstück herumzuhopsen. Lazy brauchte etwas länger, um sich durch das Loch zu zwängen und hopsen tat er schon gar nicht. Aber die beiden fühlten sich augenscheinlich wohl. Na, wenigstens etwas!
Tommy und ich bogen die Hecke an einer etwas lichteren Stelle auseinander, damit wir einen besseren Einblick bekamen. Wo einst das kleine, graubraun verputzte Haus gestanden hatte, war jetzt nur noch das Fundament zu sehen. Offensichtlich hatte eine Baufirma mit schwerem Gerät die Außenmauern und das Dach eingerissen, denn überall auf dem Grundstück verliefen tiefe Spuren von den Ketten eines Baggers. Mauerstücke lagen herum, aus denen die eine oder andere Stahlarmierung ragte. In einer Ecke türmten sich zerbrochene Dachziegel und daneben lagen Fensterrahmen, aus denen das Glas heraus gebrochen war. Die vielen Brombeersträucher, die uns im Sommer so gepiesackt hatten, waren platt gewalzt, die schönen Obstbäume zum Teil umgefahren oder sie standen schräg, weil der Baggerfahrer anscheinend nicht aufgepasst hatte. Zur Straßenseite hin standen riesige Stahlcontainer mit Bauabfall und ein großes Schild mahnte „Baustelle! Eltern haften für ihre Kinder!“
Ich stand da und ließ das auf mich einwirken. Unser schöner Plan schien sich in Nichts aufzulösen. Das ganze Grundstück wirkte seltsam leblos. Selbst die Vögel hatten die Flucht ergriffen. Kein Laut drang zu uns herüber. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Janines Schultern bebten, doch gleich darauf legte Sanne einen Arm um sie.
„Hey, noch ist nichts verloren. Denk doch mal nach. Die unbekannten Herrscher haben uns viele Rätsel aufgegeben, die wir das letzte Mal lösen mussten. So leicht wird es nicht sein, wieder in die andere Welt zu gelangen. Ich hab das Gefühl, dass wir erst beweisen müssen, dass wir die Richtigen sind.“
Sie überdachte ihre Worte ein paar Sekunden. „Ich meine, natürlich sind wir es, aber das können die ja nicht wissen. Da könnte ja jeder kommen und in diese Welt eindringen wollen. Und das hätte ich an deren Stelle auch verhindert.“
Janine sah Sanne voller Hoffnung an und zeigte auf das Durcheinander auf dem Grundstück.
„Du meinst, das könnte ein neues Rätsel sein?“
„Warum nicht?“, antwortete Tommy an Sannes Stelle. „Jedenfalls sollten wir nicht gleich aufgeben, nur weil etwas anders aussieht als das letzte Mal. Ich habe das komische Gefühl, dass man uns prüfen will, denn etwas stimmt hier ganz und gar nicht!“
Mit neuer Spannung irrten unsere Blicke über die Reste des Hauses, den Abfall und das Grundstück.
„Was meinst du? Los, sag schon! Mach’s nicht so spannend!“
„Joe“, wandte er sich an mich, „kannst du dich noch daran erinnern, dass das Haus keine Tür hatte und dass es genau das war, mit dem du mich neugierig auf die Sache hier gemacht hast?“
Na klar konnte ich mich daran erinnern. Wie hätte ich das jemals vergessen können, schließlich waren wir erst durch das Rätsel mit der Holografie buchstäblich in das Haus gefallen.
„Und ob“, nickte ich. „Und?“
„Jetzt fehlt auch etwas. Mal sehen, ob ihr darauf kommt.“
Noch einmal nahmen wir die Szenerie in uns auf und versuchten, etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Minuten vergingen, doch ich kam einfach nicht drauf. So langsam schnitt mir der Riemen des Rucksacks schmerzhaft in die Schultern, der Schlafsack lag schwer in meinem Arm, und ich schwitzte in meinen warmen Klamotten. Es war zwar Oktober, aber ein recht milder Tag, sonnig und vielleicht an die zwanzig Grad warm. Ich hätte einiges dafür gegeben, schon jetzt Ballast abwerfen zu dürfen. Aber wir waren ja gerade mal zehn Minuten von zu Hause fort! Ich schüttelte den Kopf.
„Was soll man denn hier erkennen? Hier gibt es doch nichts außer Schutt! Alles, was fehlt, ist das Haus“, meinte ich resigniert.
Und dann stahl mir Sanne die Show.
„Tommy ... “, sagte sie langsam, „das Haus hatte keine Tür. Und das Grundstück hat keine Einfahrt!“
„Bingo!“, rief Tommy und seine Augen strahlten. „Genau das ist es! Ich dachte die ganze Zeit, wo ist denn der Bagger hin, der das Haus abgerissen hat? Die Spuren sind ja überall zu sehen. Aber wenn hier ein Bagger war, dann muss er ja auch rein und wieder raus gefahren sein. Und wie soll er das geschafft haben, wenn das ganze Grundstück ringsum mit einer Hecke eingezäunt ist, die bestimmt schon viele Jahre alt ist. Oder seht ihr hier irgendwo eine Stelle, die neu bepflanzt wurde?“
Mann, ich konnte es nicht glauben. Die Erklärung war so einfach. Der Beweis war eindeutig. Die Hecke wuchs dicht und ununterbrochen rings um das geheimnisvolle Grundstück. Drei Seiten fielen sowieso weg, denn durch den Wald und über das Nachbargrundstück konnte im Leben kein Bagger dieser Größe durchkommen. Blieb nur die Straßenseite, und da standen wir ja und konnten deutlich erkennen, dass hier seit langer Zeit nichts verändert worden war.
„Sanne“, sagte Janine mit bewunderndem Blick, „du bist toll! Da wäre ich nie drauf gekommen!“