Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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Deutschland in mehreren abgefuckten Viehwaggons unser Notquartier. Das konkrete Ziel kannte freilich niemand, auch die eigens dafür Verantwortlichen nicht.

      Soweit ich mich erinnere, wurden vom bewaffneten Aufsichtspersonal durchschnittlich jeweils sechs Familien in einen „Wohn- und Schlafsalon“ gepfercht, nachdem von uns angeblichen „Vaterlandsverrätern mit Kollektivschuld“ unter strengster Weisung und Kontrolle der Aufpasser einige Ballen Stroh, mehrere große Milchkannen mit Trinkwasser und ein paar Eimer für die Notdurft hineingebracht wurden. Zuvor mussten wir die maroden Eisenbahnwagen von den Fäkalien der letzten Tiertransporte reinigen, die offensichtlich sowohl von Rindern als auch von Schweinen hinterlassen worden sind. Dann übergab man uns noch mehrere Laibe Brot als Zusatzverpflegung, denn etwas zum Speisen für unterwegs hatte ja jeder bei sich, allerdings nicht ahnend, dass die Fahrt beinahe sechs volle Tage dauern würde.

      Die Waggons, welche auf jeder Seite zwei stark vergitterte Öffnungen für die lebensnotwendige Luftzirkulation hatten und trotzt unserer Säuberungsaktion immer noch furchtbar übel rochen, wurden von außen fest verriegelt.

      Nachdem auch die Wachleute, ungefähr zwei Dutzend Männer, in einem normalen Wagen zur Personenbeförderung, der sich in der Mitte des Zuges befand, Platz genommen hatten, erfolgte das Signal zur Abfahrt. Sofort begann das kräftige Dampfross aus Vorkriegszeiten schrecklich laut zu wiehern, keuchen und schnauben, denn es hatte Schwerstarbeit zu leisten. Doch schon kurz darauf brachte es die Riesenraupe mit ihren sechsundvierzig prall gefüllten Gliedmaßen langsam in Bewegung.

      Seltsamerweise hatte sich zuvor niemand gegen die brutale Abschiebung mit Nachdruck gewährt. Alle fügten sich nahezu widerstandslos ihrem ungewissen Schicksal. Endlich ging es für uns „heim ins Reich“, das ja inzwischen militärisch absolut bedingungslos unterworfen war. Dort gehörten wir schließlich hin, meinten siegessicher die neuen Machthaber. Kurzum, man behandelte uns wie verfluchte Aussätzige, die man schnellstens loswerden müsste, damit sie niemals wieder irgendwelche (politische) Epidemien heraufbeschwören könnten. In Wirklichkeit führte unsere Odyssee zunächst quer durch Osteuropa.

      Wie viel Frustration, garstige Intoleranz und unbändiger Hass müssen sich damals in den Köpfen und Herzen der Menschen angesammelt haben! Dennoch sind wir nachdrücklich gehalten, insbesondere mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg stets konsequent zwischen seinen maßgeblichen Ursachen und den daraus resultierenden Wirkungen beziehungsweise späteren Folgen zu unterscheiden. Das wird indessen oftmals nicht ausreichend berücksichtigt und mitunter sogar hinterhältig entstellt, denn es ist augenfällig, dass zum Beispiel nach wie vor infame Geschichtsklitterer fleißig am Werk sind, um ihren egoistischen Bestrebungen zu dienen. Die offenbar absichtliche Verblödung gewisser Kreise fördert das allemal. Wie sonst wäre die besorgniserregende Häufung von bundesweiten neonazistischen Zusammenrottungen zu erklären?

      Hinzu kommt natürlich die Arbeitslosigkeit oder nur geringe Beschäftigung vieler Menschen, welche das eigentliche Übel ausmacht, in dem braunes Gedankengut und überhaupt die Radikalisierung bestimmter Kräfte üppige Wurzeln schlagen.

      Ja, ich gebe zu, dass wir bisweilen lediglich arg darüber staunen, wie viel Dummheit und Niedertracht mitunter in einem einzigen Schädel zeitgleich Platz finden.

      Doch halt! Ich korrigiere meine soeben getroffene Aussage insofern, als es mich drängt, unverzüglich einen weiteren Gedanken hinzuzufügen, denn ganz so einfach ist das Problem wiederum auch nicht. Mir sind nämlich mehrere rechtsorientierte Personen einigermaßen vertraut, soll heißen, ich kenne sie seit Längerem und daher auch ihre grundlegenden Ansichten. Sie alle entdecken oder konstruieren Argumente, teils sogar stichhaltige. Nur wer sich nicht mit ihnen befasst oder sie gar meidet, wie der Teufel das Weihwasser, kann behaupten, sie wären ausnahmslos Dumpfbacken, hätten keinerlei Bildung. Das ist ein fataler Irrtum, dem wir leider viel zu häufig unterliegen, denn nicht wenige von ihnen sind durchaus intelligent.

      Ohnedies würde ich einen Mitbürger niemals als „Dreck“ bezeichnen, Herr Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Es sind Menschen! Zudem entspringt deren höchst fragwürdige Gesinnung größtenteils unseren gesellschaftlichen Verhältnissen. Stimmt da gegebenenfalls einiges nicht im Staate? Und sollte nicht auch ein bekennender Christ besser nach den möglichen Ursachen für rassistisches Gedankengut sowie Ausländerfeindlichkeit fragen, besonders in einer derart hohen Position, anstatt lautstark Sprüche zu klopfen?

      Ich kann hier nur besorgt dazu anregen: Leute, sucht lieber die konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen, vor allem mit den Jüngeren, statt sie hochnäsig zu umgehen! Einige bleiben freilich unbelehrbar. Diese müsste eine konsequenter praktizierte Gesetzesstrenge in die nötigen Schranken weisen, was wir jedoch bislang versäumten. Sie sind jedenfalls allesamt mitten unter uns und nicht minder allgegenwärtig! Und wenn sich ihr höchst fragwürdiges Tun gar noch zu einer vereinten Kraft mit gleichgesinnten Fanatikern europaweit zusammenballt? Was dann? Die Geschichte gibt uns eine mahnende Antwort darauf.

      Mit kritischem Blick auf das verbrecherische Naziregime warnte einst Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ Das liegt sehr weit zurück. Und doch ist jener Kassandraruf des weltberühmten Literaten immer noch oder schon wieder brennend aktuell.

      Freilich lässt sich die Bedrohung unseres demokratischen Gemeinwesens nicht ausschließlich auf neonazistische Umtriebe beschränken. Die Gefahr, welche von den islamischen Eiferern ausgeht, sollte auch nicht unterschätzt werden.

      Wir liefern den Extremisten aller Schattierungen fortwährend und ebenso leichtfertig geistige Munition und beklagen uns danach über ihre böswilligen Aktivitäten, als hätten wir keine wichtigeren Sorgen und Pflichten. Das ist schlichtweg unredlich. Oder zuweilen vielleicht doch politisches Kalkül? Ihr da oben, man kann euch leider selbst bei noch so guter Absicht nicht ganz vorbehaltlos vertrauen!

      Im Übrigen zeugt das ohnehin fragwürdige Ansinnen mancher Zeitgenossen keineswegs von zukunftsträchtigen Visionen, weil eine erstrebenswerte Perspektive der Menschheit gewiss nicht durch die althergebrachte Trennung verschiedener Kulturen zu sichern ist, sondern in der Einheit ihrer gleichwertigen Vielfalt zu finden sein wird.

      Haben wir von den potenziellen Folgen des unerhört rasanten Globalisierungsprozesses bislang etwa so wenig verstanden, dass wir manchmal die seltsamsten Ideen ausbrüten und sie hernach weithin vernehmbar als das Nonplusultra kreieren?

      Was hindert uns eigentlich daran, den Buddhismus und Islam, das Christen- und Judentum sowie die Vielzahl kleinerer religiöser Gemeinschaften mit all ihren Nuancen und Facetten als weitgehend ebenbürtig zu sehen und entsprechend zu achten, solange sie sich im sozialen Gefüge nicht als inhuman entpuppen? Wo bleibt die hierfür nötige Toleranz auf weltanschaulicher Ebene? Sind wir immer noch willfährige Opfer unserer notorisch konservativen Auffassung vom Vorrang abendländischer Zivilisation oder neuerdings womöglich des bornierten Eurozentrismus? Hat uns nicht schon Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) durch seine berühmte Ringparabel im dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ aufklärend und nachhaltig auf mehr Ergebung verwiesen?

      Was soll man dazu sagen oder schreiben, wenn dementgegen kennzeichnend das vorletzte Oberhaupt der katholischen Kirche vor nicht allzu langer Zeit abermals mit Vokabeln tiefster Überzeugung inbrünstig verkündete, dass seine Glaubenslehre auch künftig die weltweit am meisten Seelenheil erweckende bleiben wird? Ergo: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker!“ Sonach handelt ihr ganz im Auftrage Jesu (Matthäusevangelium, Kapitel 28).

      Noch viel abträglicher wirkte indessen die Entscheidung jenes Heiligen Vaters am 21. Januar 2009, mittels einer sicherlich wohlmeinenden Order die ketzerische Piusbruderschaft wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzuholen. Sie wurde 1988 durch seinen Vorgänger, Johannes Paul II., infolge treulosen Verhaltens, der strikten Weigerung, sich dem Papst respektive dem Zweiten Vatikanischen Konzil unterzuordnen, exkommuniziert (was aber nicht deren Kirchenausschluss bedeutete).

      Unter den Begnadigten befand sich neben drei anderen Bischöfen auch der englische Mitraträger Richard Williamson, ein notorisch skrupelloser Holocaustleugner. Wie sich bereits kurz danach zeigte, hatte Benedikt XVI. denkbar schlechte Berater hinsichtlich seiner Auswahl der zur Rehabilitation vorgesehenen „Sündenbrüder“, denn es folgten