Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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beten, damit wenigstens meine Seele atmet, wie es sinngemäß in einem alten Sinnspruch heißt? Wer kennt die Lösung?

      Sicher, als sich jene makabre Episode zwischen uns abspielte, war ich mit der alttestamentarischen Geschichte vom heimtückischen Brudermord bereits hinreichend vertraut, wurde sie uns doch während des Religionsunterrichts oft genug einprägsam vorgetragen. Schließlich kennen alle Christen und die mit ihrer Weltanschauung halbwegs Vertrauten den zweifelhaften Trieb des Menschen zur potenziellen Gewalt seit der Erzählung von Kain und Abel. Dabei fragte ich mich bisweilen allenfalls schon als Kind, warum eigentlich der erstgeborene Sohn Adams und Evas wegen seiner unverzeihlichen Freveltat das Kainsmal als gottgegebenes Schutzzeichen auf seiner Stirn brauchte, nachdem er, der Ackermann, seinen Bruder Abel, den Schäfer, erschlagen hatte, wenn doch niemand weiter da war, der nach angemessener Vergeltung hätte trachten können. Sollten es die Eltern richten? Oder ist es schlichtweg ein symbolhaftes Gleichnis? Hierzu erhält man in einschlägigen Publikationen unterschiedliche, teils auch gegensätzliche Antworten, auf die ich jedoch nicht näher eingehen möchte, weil es letztlich doch nur blanke Theorie bliebe.

      Nun, wie dem auch sei, unsere freundschaftliche Beziehung zueinander ward durch jenen bestürzenden Zwischenfall hernach eher gefestigt als beschädigt, denn schon kurz darauf fügte uns ein kaum fassbares Ereignis für immer wie Pech und Schwefel zusammen. Das war das Grauenvollste, was ich bis dahin selbst hautnah erlebt hatte. Noch viel schlimmer traf es freilich meinen künftigen Weggefährten und brüderlichen Mitstreiter Abel, denn für ihn war es eine Begebenheit von derart teuflischer Härte, dass es ihn beinahe augenblicklich in den totalen Wahnsinn trieb, ein persönlicher Schicksalsschlag von unerhörtem Ausmaß, zumal wir beide dem grässlichen Geschehen echt hilflos ausgeliefert waren. Wir hatten als Kinder einfach keine Chance, jenes Kapitalverbrechen irgendwie zu verhindern, das sich wie folgt zutrug:

      Am sechsten Tag unserer aufgezwungenen Reise ins Ungewisse fuhr der Sonderzug mit den vertriebenen Ungarndeutschen gegen Abend am Bahnhof Pirna ein. Wir mussten ungefähr noch eine Stunde in dem verschlossenen Güterwaggon verharren, ehe sich die Schiebetüren öffneten und alle schroff aufgefordert wurden, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und auszusteigen. Wussten wir auch nicht, wie es mit uns weitergehen sollte, empfand doch sicherlich jeder die Order als willkommene Befreiung, denn wir hatten immerhin schier unendliche Stunden in einem ekelhaften Gefängnis verbracht.

      Danach wurden die meisten Ankömmlinge für eine zunächst unbestimmte Zeit in den „Grauen Kasernen“, wir jedoch gemeinsam mit anderen Familien im großen Saal eines dortigen Gasthauses einquartiert, wo es auch halbwegs annehmbare Verpflegung gab. Außerdem waren wir fortan keine Inhaftierten mehr, denn wir durften fast nach Belieben ausgehen und uns in der Stadt oder deren näheren Umgebung umschauen, was natürlich einige oft und gerne nutzten, darunter auch wir. Und genau das gereichte uns schon bald zum Verhängnis, wie man es sich noch tragischer kaum vorzustellen wagt.

      Ungefähr nach gut einer Woche meinten mehrere Personen, Abels Vater könnte doch als erfahrener Pfarrer auch unter den außergewöhnlichen Bedingungen eine Messe zelebrieren, um möglichst allen wieder etwas Mut und Hoffnung zuzusprechen. Gewiss fänden sich sogar Ministranten (katholische Messdiener) unter den anwesenden Knaben, falls es erwünscht wäre.

      Der eilfertige Würdenträger kam ihrer verständlichen Bitte anstandslos nach und zeigte sich sofort geneigt, sie bereits am nächsten Tag zu erfüllen. Er bedauerte lediglich, dass er nicht selbst die Idee oder den Mut dazu hatte. Inhaltlich müsste er sich jedoch ein wenig darauf vorbereiten. Also nahm er Papier und Bleistift und zog sich auf ein verhältnismäßig ruhiges Plätzchen im Hause zurück.

      Das war am späten Nachmittag. Um ihn dabei nicht zu stören, entschloss sich seine geliebte Lebenspartnerin, gemeinsam mit ihrem Sohn Abel und mir für eine Weile am Elbufer spazieren zu gehen (Peter blieb wiederum lieber bei seiner Oma). Der Fluss war höchstens zehn Minuten von unserer Notunterkunft entfernt.

      Nachdem wir uns ungefähr eine halbe Stunde an den Schönheiten der Natur erfreut hatten und es auch noch länger tun wollten, schlenderten uns drei Männer im Alter von etwa zwanzig bis dreißig Jahren entgegen. Sie sahen ziemlich verwahrlost aus, erschienen sehr ungepflegt und teilweise auch zerlumpt. Einer trug eine fast leere Schnapsflasche in der rechten Hand, die er laut grölend umherschwenkte. Die beiden anderen hatten rauchende Zigaretten in ihren Mundwinkeln.

      Nichts wirklich Böses ahnend, wurde uns doch langsam mulmig, als sie immer näher kamen, zumal weit und breit keine andere Menschenseele auszumachen war. Und siehe da, kaum standen wir ihnen direkt gegenüber, packte der etwas kleinere unter ihnen mich jählings von hinten so fest mit seinen schmutzigen Pranken, dass ich vorerst nicht die nötige Kraft fand, mich von ihm loszureißen. Das Gleiche widerfuhr unvermittelt Abel, während sich der Dritte gezielt auf seine schöne Mutter stürzte und ihr einzelne Kleidungsstücke brutal vom Leibe riss, um sie vor aller Augen zu vergewaltigen. Nachdem er seine tierische Begierde gestillt hatte, übernahm der Sexualverbrecher den völlig entsetzt und ebenso sprachlos dreinblickenden Jungen in seine Gewalt, damit der zweite Wüstling die äußerst widerwärtige Schandtat vollziehen sollte. Im selben Moment gelang es mir plötzlich, mich aus den Fängen des einen Monsters zu befreien, und ich rannte, wie von Sinnen so schnell ich konnte, um Hilfe zu holen.

      In panischer Angst erreichte ich den Vater meines furchtbar gemarterten Freundes, und wir stürmten beide zur Stelle des Verbrechens. Als wir nach wenigen Minuten mit rasenden Herzschlägen und arg erschöpft dort ankamen, war noch Schlimmeres geschehen. Die junge Frau lag vollkommen regungslos am Boden. Sie war tot, vom dritten Kriminellen glattweg erwürgt worden, nachdem sie wieder ihre Stimme fand und markerschütternd schrie. Das entnahm ich den hysterischen Wortfetzen, welche sich die Gruppentäter danach gegenseitig zuwarfen.

      Anschließend sah ich, wie der fassungslose Priester bei seiner Angebeteten kniete, und Tränen unsagbaren Schmerzes liefen über sein Gesicht. Kurz danach stürzte er sich wutentbrannt und zu allem entschlossen auf einen der Bestien, die nunmehr das Weite suchen wollten. Doch kaum hatte er ihn am Kragen erwischt, zückte der Unhold ein langes Messer und erstach den Verzweifelten.

      All diese fast unbeschreiblich grässlichen Horrorszenen musste Abel direkt miterleben, ohne persönlich irgendetwas Nennenswertes dagegen unternehmen zu können, selbst wenn er sich noch so beherzt die Seele aus dem Leibe gebrüllt hätte.

      Wer traut sich aufrichtig zu, seine damalige Situation einigermaßen wahrheitsgetreu nachzuempfinden, sich die namenlosen Marterqualen, denen er total hilflos ausgeliefert war, wenigstens annähernd zu vergegenwärtigen?

      Zwar hatte auch mich der unbändige Schmerz beinahe in den Boden gestampft, doch mit absoluter Sicherheit traf es ungleich leidvoller meinen Freund, der knapp hintereinander in brutalster Weise Mutter und Vater verlor, die er beide grenzenlos liebte.

      Ich weiß nicht, wie lange es wirklich dauerte, bis eine überaus besorgte Schar von Männern und Frauen aus dem Lager bei uns eintraf, um nach dem Rechten zu schauen. Ebenso wenig habe ich mitbekommen, was die Leute empfanden und wie sie reagierten, nachdem sie den Schauplatz der furchtbaren Tragödien entdeckten.

      Dagegen ist mir eines noch bestens in Erinnerung, und ich werde es bestimmt zeitlebens nicht vergessen, weil sich jenes unergründliche Geschehnis garantiert auf ewig in meinem Bewusstsein einbrannte: Es war Abels äußerst merkwürdiger Blick, der mich regelrecht erstarren ließ, als er ihn jählings auf mich richtete. Nie zuvor habe ich in solch rätselhafte Augen gesehen! Sie fesselten mich unbarmherzig, zunächst wie synchron berstende winzige Sonnen, dann ähnlich einer blitzschnellen Bündelung ihrer ausgesandten Energie in Gestalt von im höchsten Grade seltsamen Lichtstrahlen, deren magischem Zwang ich aus eigener Kraft nicht mehr auszuweichen vermochte. Ihre Wirkung war derart übel, dass mich auf der Stelle eine schauderhafte Todesangst erfasste. Erst nachdem sich zwei warme Hände von hinten behutsam auf meine gebannten Augen legten, wich allmählich das unglaubliche Phänomen. Es war meine wunderbare Mutter, die mich hernach fest in ihre Arme nahm und dadurch wohl auch von noch größerem Schaden bewahrte.

      Vielleicht glaubte Abel damals, ich hätte ihn während seiner dramatischen Notlage im Stich gelassen, und er müsse mich dafür unverzüglich hart bestrafen? Doch nach gründlicher Analyse halte ich das für vollkommen