Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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das Wasser reichen beziehungsweise einiges davon übermitteln, was er allerdings mit gleicher Aufgeschlossenheit entgegennahm, wie ich für seine Kenntnisse und Erfahrungen stets ein offenes und ebenso williges Ohr fand.

      Ach, was hatte doch der junge Spund bereits auf dem Kasten! Er sprach unter anderem über Bücher, von denen ich bis dahin nicht einmal wusste, dass es sie gibt, geschweige denn, ich hätte zumindest einige davon schon gelesen und wäre mit ihrem faszinierenden Inhalt so fest vertraut wie er. Meine lieben Eltern, wie fürsorglich sie auch waren, konnten sich Derartiges unter keinen Umständen leisten. Sie hatten zu tun, uns einigermaßen satt zu bekommen, worüber sie fraglos sehr glücklich sein konnten.

      Bei Abel kam hinzu, dass er in seiner Ortschaft, die beträchtlich größer war als unsere, von Anfang an eine Schule besuchte, in der es wesentlich moderner zuging, weil der jeweilige Lehrstoff sowohl umfangreicher als auch differenzierter und tiefgründiger vermittelt werden konnte. Dafür waren die konkreten Bedingungen eindeutig günstiger als bei uns. Außerdem hatte er auch viel mehr Zeit zum Lernen als ich, denn er musste nicht bereits im Kindesalter zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Schließlich verfügten auch seine Eltern über einen hohen Bildungsstand, der selbstredend ihrem Sprössling fortwährend zugutekam. Gleichwohl bitte ich meine verehrte Leserschaft aufrichtig darum, dies nicht etwa als wehmütiges Klagelied aufzufassen! Das entspräche nicht annähernd meinen wirklichen Empfindungen.

      Doch wie gern ich auch vom erheblichen Wissensvorsprung meines angehenden Freundes profitierte, am vierten Tag schockte er mich mit einer unglaublich düsteren Prophezeiung, die ich bislang zu keiner Zeit völlig aus meinem Bewusstsein drängen konnte. Und heute ist sie aktueller denn je.

      Er muss damals in der Nacht zuvor einen besonders schauderhaften Albtraum gehabt haben, auf den er sich nachdrücklich berief, als er mir am nächsten Morgen brühheiß etwas mitteilte, das mich auf der Stelle vollkommen fassungslos machte und regelrecht erstarren ließ. Auch jetzt bekomme ich noch eine furchtbare Gänsehaut, sobald ich nur daran denke, und das passiert mir ziemlich oft.

      Nachdem Abel mich unversehens mit den höchst merkwürdigen Worten überraschte, er werde mich fortan nicht mehr Karcsi (Kosename für Károly), sondern Kai nennen, weil er seinem Traum gemäß die abscheuliche Vorahnung habe, dass ich ihn eines Tages entsprechend der biblischen Legende töten werde, auch wenn ich nicht sein leiblicher Bruder wäre.

      Möglicherweise komme es auch umgekehrt. Aber es würde bestimmt eintreten, selbst wenn bis dahin Jahrzehnte vergingen. Davon sei er felsenfest überzeugt, wie verwirrend seine unheimliche Prognose für uns beide auch sein möge.

      Na, das war vielleicht ein Schrecken! Er traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Plötzlich fühlte ich mich in seiner Nähe weit mehr bedroht als geborgen.

      Litt er etwa unter einer Psychose, allenfalls der Manie, selbst unablässig verfolgt zu werden? Oder verfügte er tatsächlich schon als Jüngling über die beinahe unglaubliche Fähigkeit zu einem Orakel, jener Weissagung, die früher, besonders während der griechischen Antike, durch namhafte Priester(innen) sowie ähnlich hellseherische Koryphäen in einschlägigen „Sprechstätten“ verkündet worden ist und meist auch ungetrübte Beachtung fand? Aber das waren fast immer genial begabte Persönlichkeiten mit enormer Lebenserfahrung und daher entsprechend reifer Altersklugheit.

      Gewiss, vereinzelt wähnten sich auch Heranwachsende mit einer auffallend scharfsinnigen Veranlagung ausgestattet, die sie speziell für Wahrsagungen nutzen durften, besonders bei Naturvölkern. So ist zum Beispiel überliefert, dass ein jugendlicher Schamane, namens Göktschu-Teb-Tengri, der trotz seines pubertären Alters als weithin anerkannter Zauberpriester bereits hohes Ansehen genoss, die Schicksalsfügung von Temugdin Jessug-hei, dem späteren Dschingis Khan (1162 bis 1227), schon ziemlich genau zu prophezeien vermochte, als dieser selbst auch noch ein Knabe war.

      Und so kam es dann auch: Temugdin wurde nicht nur ein beispiellos erfolgreicher Krieger, sondern auch der bedeutendste Eroberer aller Zeiten, denn er schuf das größte Reich, welches jemals auf dem Erdenrund bestand. Es erstreckte sich von der Sibirischen Taiga bis an den Himalaja, vom Mittelländischen Meer bis an den Stillen Ozean. Sein unübertrefflicher Siegeszug kann gewiss nicht damit begründet werden, dass er während seiner Geburt einen Klumpen geronnenes Blut in der kleinen Babyfaust hielt, der einem roten Edelstein glich, was die Anwesenden zu höchst seltsamen Reaktionen veranlasste, darunter später auch den erwähnten Schamanen zu seiner bemerkenswerten Prophetie.

      Die Mongolen verehren Dschingis Khan übrigens heute noch als ihren am meisten geachteten Nationalhelden, obwohl er sein riesiges Imperium mit einer unglaublichen Brutalität schuf und verteidigte. Andererseits ist es schon beeindruckend und für manche Interessenten sogar regelrecht bewunderungswürdig, wie es möglich war, dass eine aufs Reiten erpichte Nomadengemeinschaft von höchstens einer Million Seelen unter seiner Führung unzähligen Völkern das pure Fürchten lehrte, mögen jene Krieger auch noch so kampfesmutig gewesen sein.

      Genau diese Geschichte schoss mir urplötzlich durch den Kopf, als mich Abel mit seiner makabren Weissagung völlig aus der Fassung brachte, denn ich war mit besagter Legende ausgiebig vertraut, hatte doch mein einstiger Lehrer sie oft genug zum Besten gegeben. Dabei wäre unser „gescheites Hutzelmännchen“ zuweilen wohl auch gerne selbst auf einem Pferd sitzend und mit Pfeil und Bogen bewaffnet aufgetreten, um seine Lieblingsstory den Schülern noch anschaulicher zu demonstrieren. Sein ausgeprägtes Faible für die einzigartigen „Heldentaten“ des Mongolenfürsten war offenkundig. Bei alledem vergaß er niemals, ebenso bildhaft zu erwähnen, dass dem besagten Schamanen schließlich auf Geheiß des Khans das Rückgrat gebrochen wurde, um ihn für immer auszuschalten, weil der Geistliche nach Ansicht des weltlichen Herrschers über die Jahre hinweg doch zu großen Einfluss auf irdische Verhältnisse gewann, zumal er sich während seiner Ratschläge unablässig auf die Götter berief. So vollzog sich die allmähliche Wandlung der einst tiefen Freundschaft zwischen den beiden Jugendlichen hin zur bitteren Feindschaft im Mannesalter, die letztlich mit dem Tode eines Rivalen endete.

      Kein Wunder also, wenn sich die eben ins Feld geführte Tragödie unversehens in mein Bewusstsein drängte, nachdem mich Abel durch seine entsetzliche Verlautbarung für eine Weile regelrecht sprachlos machte.

      Nebenbei bemerkt: Äußerst blutrünstige Praktiken seien in jener Sphäre anno dazumal durchaus als Normalität empfunden worden. So wäre es keine Seltenheit gewesen, dass man den schon besiegten Feinden noch zusätzlich das Haupt abschlug oder aufsässige Untertanen bei lebendigem Leibe in brodelnden Kesseln kochen ließ. Menschenleben habe keinen überdurchschnittlichen Wert gehabt; es sei vertilgt worden, wie man es für gewöhnlich mit Ratten auch macht, sobald ihre Existenz als schädlich beurteilt wird.

      Sie, meine verehrten Leser, können sich bestimmt gut vorstellen, dass namentlich Kinder dergestalt emotional überschäumend dargestellten Erzählungen besonders aufmerksam verfolgen und gleichermaßen anhaltend in fester Erinnerung behalten. Mir ist es jedenfalls so ergangen.

      Indem mich Abel während unserer Zugfahrt nach Deutschland durch seine irrsinnig beängstigenden Worte fast regungslos erstarren ließ, schlug mich just diese Geschichte in ihren Bann, denn sie schwirrte sogleich in meinen Hirnzellen rasend umher, um von mir schon bald vollends Besitz zu ergreifen. Danach gab es kein Entrinnen, nicht die geringste Chance blieb mir, mental davon loszukommen. Fortan war ich gefangen im Teufelskreis meiner hierauf stets quälenden Gedanken.

      Trotz aller nachfolgenden Bemühungen konnte ich mir lange Zeit einfach keinen passenden Reim auf Abels düstere Äußerung machen, so sehr mich der entsetzliche Vorfall auch gelegentlich beschäftigte. Erst zu Christi Himmelfahrt 2011 offenbarte sich mir der tiefere Sinn jener unheimlichen Schicksalsdeutung. Seither leide ich zunehmend an vielerlei nervösen Störungen, vor allem an häufiger Schlaflosigkeit, ausgelöst durch das wohl berechtigte Angstgefühl, der Tag könne nicht mehr fern sein, an dem sich Abels gruselige Prophetie bewahrheitet. Infolgedessen legte sich automatisch eine abgrundtiefe Beklemmung auf mein Gemüt, gleichsam, als müsste ich demnächst gnadenlos ersticken, wäre unwiderruflich todgeweiht. Das belastet mich mittlerweile so stark, dass manchmal schon die abwegigsten Eingebungen in meinem Kopfe herumgeistern.

      Wie kann das enden? Bleibt mir noch eine