Die Schadstoffwerte im Blut waren stark erhöht, der Gefangene benötigte eine Blutwäsche, um die ganzen Abbauprodukte, die durch die Heilung der Verbrennungen entstanden, herausgefiltert zu bekommen. An den Kaliumwerten sah der Mediziner, dass Rejs Niere zu schwach war, um diese Leistung zu vollbringen. "Sie brauchen Dialyse", erklärte er dem Mann vor ihm. "Danach werden Sie sich ein wenig besser fühlen. Aber dafür müssen Sie jeden Tag hier her kommen. Bis Ihre Organe diese Funktion wieder übernehmen können. Oder bis..." Noah hielt inne. Er wollte es seinem Gegenüber nicht unter die Nase reiben, dass er ein Todeskandidat war, der auf seine Hinrichtung in sechs Wochen wartete. "Bis...", versuchte er den Satz anders zu beenden, aber es fiel ihm nichts passendes ein.
"Schon in Ordnung", meinte der Häftling müde. "Bis ich zu Tode geschockt werde. Dann brauch' ich keine funktionierenden Organe mehr."
Noah verzog das Gesicht. Er erinnerte sich selbst nur ungern an die Ereignisse, wo er selbst mit einem Elektroschocker malträtiert worden war. Dass man dem Song-Kommendan nicht die mildere Strafe des Todes durch eine Giftinjektion gewährt hatte, lag vermutlich daran, dass er als Staatsfeind der Xiantiao-Regierung galt. Und zudem keinerlei Informationen über das weitere Vorgehen der Song unter Shen To preisgegeben hatte.
"Warum machen Sie sich eigentlich die Mühe, mich unter diesen Umständen einzuknasten? Warum werde ich erst in sechs Wochen getötet?", stellte der Gefangene die nicht irrelevante Frage. Wie der Medic es von den Videos aus der Gerichtsverhandlung gehört hatte, schien der Terrorist seinem Ende tatsächlich sehr gefasst entgegen zu blicken. Aber mit diesem zerstörten Körper war der Tod vielleicht auch eher eine willkommene Erlösung denn eine Strafe.
"Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Bianco", setzte Rej Lio'Ta fort und schloss durch seine weiteren Worte Noahs soeben erstellte Theorie sofort wieder aus, "ich hänge an meinem Leben. Aber für die LAAN ist das doch ein unnötiger Aufwand. Ein hoher Kostenfaktor."
Noah erinnerte sich daran, dass man ihn nicht nur einmal vor dem Widerstandskämpfer gewarnt hatte. Der spezielle Gefangene habe eine gefährliche Art, Konversation zu führen. Zu leicht ließe man sich in seine Welt, in seine Sicht der Dinge ziehen, wechselte, ohne es zu merken ganz langsam die Seiten. Der Arzt musste auf der Hut sein, wenn er es weiter dulden wollte, dass der Gefangene so viel sprach. Auf der anderen Seite war er als leitender Gefängnismediziner auch dazu hier, um die psychologische Komponente für die Häftlinge abzudecken, insbesondere, wenn sie krank oder verletzt waren. Aber den Abstand zu wahren, war ihm auch schon bei anderen Klienten ganz gut gelungen. "Sie sind hier, weil Sie den ShaoSetFai noch nicht ihre Fragen beantwortet haben. Aufgrund Ihres körperlichen Zustandes sind Sie nicht in der Lage, für Ihre Unterbringung und Nahrung zu arbeiten. Aber auch so wird der Aufenthalt für Sie hier kein Zuckerschlecken. Denn die ShaoSetFai werden Sie täglich zu den Befragungen abholen. Die LAAN ist sich sicher, sechs Wochen werden reichen, um an die benötigten Informationen zu gelangen. Danach sind diese auch nicht mehr all zu viel wert. Und Sie damit auch nicht mehr."
Der Gefangene lachte bitter. "Das haben die sich aber schön überlegt. Da bin ich gespannt, wer den längeren Atem behält."
"Sie, mit nur einem Lungenflügel? Dann sicherlich die ShaoSetFai", rutschte es dem Medic unüberlegt heraus und Rej lachte erneut. "So gesehen... haben Sie vermutlich recht."
Im selben Moment erklang erneut das schnarrende Geräusch von der großen Tür, dann setzten sich die Torflügel in Bewegung und zwei der ShaoSetFai tauchten in der Schleuse auf. Sie eskortierten einen Mann, der in der fürs Hauptgefängnis üblichen orange-schwarzen Gefängniskleidung steckte. Er hatte freundliche braune Augen, eine markante Nase, die aber gut in sein Gesicht passte und einen zu einem verschmitzten Lächeln verzogenen Mund. Das halblange dunkelbraune Haar hatte er sich lässig aus dem Gesicht gekämmt, allgemein machte er einen sehr gelassenen Eindruck, obwohl seine Arme mit einer Manschette auf den Rücken gefesselt waren.
"Hallo, Dr. Bianco", rief der Neuankömmling fröhlich durch die Krankenstation. "Die netten Herren wollten auf die Fesseln nicht verzichten. Bitte verzeihen Sie meine Verspätung."
"Sie können mir Herrn Bjantiya hier lassen", forderte Noah die Soldaten auf, welche sich augenblicklich wieder versteiften und den Gefangenen in ihrer Mitte etwas fester packten. Der Häftling verzog das Gesicht zu einem noch schieferen Grinsen. "Die sind heute einfach so ungemütlich. Ich weiß auch nicht, weshalb."
"Ruhe!", wurde er unwirsch von einem der ShaoSetFai angeblafft. "Unterschreiben Sie hier das Übergabeprotokoll, Doktor Bianco. Wollen Sie wirklich mit zwei der Insassen in einem Raum alleine bleiben?" Unter dem maskierten Gesicht sah Noah, wie der Soldat die Stirn runzelte. Die XSF waren heute tatsächlich etwas unentspannt. Wahrscheinlich lag es an dem speziellen Gefangenen. Vielleicht wollten sie in seiner Gegenwart besonders hart und unbeugsam wirken. Der Doktor zückte erneut seinen Plastift und quittierte das digitale Formular mit seinem Namenszug. "Herr Bjantiya hat vielleicht ein etwas loses Mundwerk, aber er riskiert es sicherlich nicht, seine vorzeitige Haftentlassung in einem halben Jahr zu gefährden, indem er mir hier eine überbrät. Davon hätte er absolut keinen Nutzen." Er packte den braunhaarigen Mann am Arm und zog ihn aus der Schleuse. "Sie können wieder gehen", ließ er die Wärter unhöflich wissen. "Und draußen vor der Türe herumstehen. Die hier machen wir erst einmal ab." Er wandte sich den Handschellen des Neuankömmlings zu und löste sie durch eine Codeeingabe am dort angebrachten Display. "Absolut sinnlos", murmelte er vor sich hin und legte die Fesseln zur Seite, schenkte den Soldaten keine weitere Beachtung mehr.
Gemeinsam gingen sie zurück zu der Liege, auf der der spezielle Gefangene nur mit angehört hatte, was im Schleusenbereich vor sich gegangen war, und Noah schob den anderen Häftling in Rejs Blickfeld. "Das hier ist Sajan Bjantiya. Er ist ebenfalls ein Insasse hier. Er wird Sie die nächsten sechs Wochen begleiten."
Der mit dem Namen 'Sajan' vorgestellte Mann streckte dem Song-Kommendan die Hand entgegen, ließ sie dann aber wieder sinken, als er seinen schlecht bandagierten und geschienten rechten Arm sah.
"Ich habe die letzten vier Jahre im West gesessen", erzählte er stattdessen in entspanntem Tonfall. "Da ich, bevor ich dort gelandet war, als Pflegekraft gearbeitet hatte, hat man mir das Angebot gemacht, mir ein Jahr Haft zu erlassen, wenn ich mich die nächsten sechs Wochen um Sie kümmere. Ich fand das sei ein faires Angebot." Er ging in die Hocke, um sich mit dem ehemaligen Terroristenanführer auf Augenhöhe zu begeben. "Drum wurde ich gestern hier her verlegt. Ich habe mich mit Dr. Bianco schon ausgetauscht und mich mit den Gegebenheiten des Traktes hier vertraut gemacht."
Noah beobachtete argwöhnisch, doch neugierig, den Blickwechsel zwischen den beiden Männern. Er war sich nicht sicher, ob der neue Gefangene sich darauf würde einlassen können. Wenn der Funke übersprang und sich die zwei einigermaßen verstanden, dann würde es ihm die Arbeit ungemein erleichtern.
"Sie sind ganz schön zugerichtet, Rej. Ich darf Sie doch 'Rej' nennen?", fragte der braunhaarige Mann geradeheraus und Rej Lio'Ta nickte. "Rej? Ja", antwortete er knapp.
"Mich können Sie 'Sajan' nennen. Doktor Bianco nennt mich 'Herr Bjantiya', das geht auch, aber so förmlich muss es nicht sein." Der vor ihm liegende signalisierte mit einem Blinzeln sein Einverständnis. Der Krankenpfleger hob seine Hand auf Rejs Augenhöhe und streckte seine Finger in seine Richtung. "Ich werde Sie anfassen müssen, Rej", erklärte er behutsam. "Es wird ungewöhnlich für Sie sein, zu Beginn vielleicht auch unangenehm, aber daran werden Sie sich schnell gewöhnt haben. Und ich versichere Ihnen, ich passe gut auf Sie auf. Wenn Sie Schmerzen haben, müssen