"Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte der ShaoSetFai, Gefangenenbefreiung, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Volksverhetzung, Anleitung, Belohnung und Billigung von Straftaten, Fälschung von Zahlungskarten und Schecks, Verleumdung gegen die AneLAAN. Außerdem Mord in mehreren Fällen, sowie fahrlässige Tötung in mehreren Fällen, mehrfache gefährliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Nötigung. Den besonders schweren Fall des Diebstahls von Waffen, Entziehung elektrischer Energie, schwerer Raub mit Todesfolge, Strafvereitelung, Geldwäsche, Computerbetrug, Fälschung technischer Aufzeichnungen, Vorbereitung und Verschaffung von falschen amtlichen Ausweisen und der SASC, Sachbeschädigung, Datenveränderung, Computersabotage, Gemeinschädliche Sachbeschädigung, Zerstörung von Bauwerken und wichtigen Arbeitsmitteln, Brandstiftung mit Todesfolge, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, Herbeiführen einer Überschwemmung, gemeingefährliche Vergiftung, gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr sowie dem Straßenverkehr, Störung von Telekommunikationsanlagen, Störung des GeRi-Systems, Beschädigung wichtiger Anlagen."
Endlich war der Mann in den offiziellen Gewändern zu einem Ende der langen Liste an Verbrechen gelangt. Ja, der Gefangene hatte ja gesagt, er nehme alle Verbrechen der Song - seiner Organisation, seiner Familie - auf sich. Er übernehme die Verantwortung dafür. Schließlich hatte er über alle Aktionen den letzten Blick behalten und war an einigen sogar selbst beteiligt gewesen. Aber in der geballten Gesamtheit machte die Liste selbstverständlich großen Eindruck. Und genau das war ja auch das Ziel des Prozesses. Hervor zu heben, trotz seiner momentanen eher mitleiderregenden körperlichen Erscheinung, wie gefährlich und böse er war. Was für ein Monster er war. Und dieses Monster galt es in aller Öffentlichkeit durch die starke Hand der Regierung, der AneLAAN, zu vernichten.
"Der Angeklagte Lio'Ta wird deshalb zum Tode verurteilt, das Urteil wird durch die Elektroschockfolter vollstreckt. Die Hinrichtung findet in sechs Wochen statt, der Ort wird kurz vor der Exekution bekannt gegeben."
Ein Raunen ging durch die Menge und auch der Gefangene war verwundert. Nicht über das Urteil an sich, damit hatte er ja gerechnet, sondern darüber, dass die Hinrichtung erst in sechs Wochen vollzogen werden sollte. Er verstand nicht, warum man sich dafür so lange Zeit ließ. Sonst wurden Exekutionen von Schwerverbrechern in Xiantiao meist recht rasch vollzogen. Und wollte die AneLAAN daraus ein ähnliches Spektakel machen, wie für diesen Schauprozess, dann reichten ihnen doch für die Vorbereitung auch wenige Tage - das hatten sie ja mit der Gerichtsverhandlung heute eindrucksvoll bewiesen. Warum also sechs Wochen und wie wollte man das bewerkstelligen?
"Rej Lio'Ta wird bis zum Vollstreckungstermin im Hauptgefängnis von Xiantiao im Hochsicherheitstrakt untergebracht. Der Haftbefehl bleibt selbstverständlich aufrecht erhalten. Zu den Gründen gibt es nur noch folgendes zu sagen: Das Urteil begründet sich auf die im Prozess glaubhaft dargelegten Beweise und Zeugenaussagen, die die LAAN-Akudanaies vorgebracht hat. Rej Lio'Ta, der ehemalige Anführer der terroristischen Vereinigung 'Song' und der ebenso ehemalige Kommendan des Flaggschiffs der Song 'Tahemetnesut' hat durch seine Taten versucht, die Grundfeste unserer Gemeinschaft zu erschüttern und ihre Tugenden zu Fall zu bringen, auf die Xiantiao baut - nämlich den Frieden, die Einigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie. Er hat versucht im Volk von Xiantiao Unsicherheit und Angst zu sähen, um uns Zwietracht und Gewalt ernten zu lassen. Doch die AneLAAN hat gemeinsam mit den ShaoSetFai erneut eindeutig bewiesen, dass die Bemühungen dieser Terroristen umsonst waren, dass die Stärke der Bürger von Xiantiao weiter reicht, als die Schatten, die die Song über sie gebracht haben..."
Der Verurteilte beschloss für sich an der Stelle, der Rede des Richters nicht mehr weiter zu folgen. Das schwülstige Geschwafel machte seine hämmernden Kopfschmerzen nicht unbedingt besser und vermehrte nur die Übelkeit, die ihn immer wieder zu überwältigen drohte. Zudem kreisten seine Gedanken um die sechs Wochen. Er hatte geglaubt, nur noch wenige Stunden, maximal Tage für seine Familie aufrecht durchhalten zu müssen, aber nun sollten es sechs Wochen werden? Im Hochsicherheitsgefängnis von Xiantiao - und das in seinem Zustand? Es würde eine unvorstellbare Qual werden. Ironischerweise würde er bis zu seiner Exekution sicherlich nicht überleben.
1 - Arzt oder Arsch
Am Tag nach dem Prozess wurde der Gefangene zu einem Transporter gebracht und dort im Inneren innerhalb einer vergitterten Zelle fixiert. Rej, der die letzten Stunden damit verbracht hatte, darum zu kämpfen. um an der Oberfläche des Bewusstseins zu bleiben, sank in den Fesseln in sich zusammen. Er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft, müde war gar kein Ausdruck dafür. Aber es war irgendwie beruhigend, endlich zu wissen, wie es nun weiterging.
Sechs Wochen würde er also im Hauptgefängnis von Xiantiao verbringen und wenn er diese Zeit auch nur irgendwie überstand, was er sich kaum vorstellen konnte, dann würde er öffentlich hingerichtet werden. Seine Zeitlinie würde spätestens durch die Vollstreckung des Urteils beendet werden, sein Kampf für die Song dann endgültig vorbei sein. Aber solange er wusste, dass seine Familie, angeführt durch seinen Bruder Shen To, weiter für ihre Sache kämpfen würden, war es ein erträgliches Schicksal. Und Rej hatte in der kurzen Zeit, seit er aus dem künstlichen Koma gerissen worden war, erleichtert feststellen können, dass sich sein kleiner Bruder in den letzten zwei Wochen zu einem guten und selbstsicheren Anführer entwickelt hatte. Auch Hanma Cerasela hatte den Jüngeren akzeptiert, und das bedeutete wirklich sehr viel.
Während der Fahrt fiel er immer wieder in einen Dämmerzustand, der die an seinen Kräften zehrenden Schmerzen ein wenig dämpfte. Er erwachte erst, als der Wagen endlich anhielt und die Türen von außen geöffnet wurden. Im starken Gegenlicht konnte er nichts von Draußen genauer erkennen. Er kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf zur Seite, da die Helligkeit ihn blendete, das grelle Licht sich wie glühende Lanzen in seine Pupillen bohrte.
Mehrere Schatten beugten sich über ihn, zielten mit Waffen auf ihn, die Fixierungen, die ihn an Ort und Stelle gehalten hatten, wurden gelöst und er wurde empor gezerrt. Scheinbar hatte man immer noch nicht begriffen, dass er nicht dazu in der Lage war, selbst zu laufen. Man behandelte ihn wie einen normalen Häftling, aber Rej war es einfach nicht möglich, ihnen diesen Gefallen zu tun. Er spürte seine Beine über den Boden schleifen, seine nackten Füße auf dem Asphalt, aber er konnte sie nicht bewegen und auch nicht sein Gewicht mit ihnen abstützen.
Sie schleiften ihn, an den Oberarmen eingehakt, aus dem Fahrzeug und ignorierten, dass er vor Schmerzen stöhnte, als sich sein Rücken durch die grobe Behandlung verdrehte und sich ihre behandschuhten Finger in seine wunde verbrannte Haut unter den verrutschten Bandagen drückten.
Es waren nur wenige Meter im Freien, dann wurde er durch ein paar dunkle Gänge gebracht, die Arme noch immer mit einer metallenen Manschette auf den Rücken gefesselt. In einem etwas besser ausgeleuchteten Raum hielten sie schließlich für einen Moment an und jemand packte mit stahlhartem Griff sein Kinn und zwang ihn, seinen Kopf nach oben zu drehen. In Rejs Ohren rauschte das Blut, hämmerte durch seine Schläfen und riss seine Gedanken mit jedem Herzschlag in einzelne nutzlose Fetzen, aber ein paar der Worte seines Gegenübers drangen trotzdem zu ihm durch. Jedoch waren sie nicht direkt an ihn gerichtet, es waren nur weitere Befehle für die ShaoSetFai-Soldaten. "Bringt ihn zu Dr. Bianco. Aber lasst ihn nicht aus den Augen und lockert auf keinen Fall seine Fesseln. Es gilt die oberste Sicherheitsstufe. Unterschätzt dieses Monster bloß nicht."
Hätte er sich nicht so unendlich elend gefühlt, hätte Rej jetzt am liebsten laut gelacht. Ihn in diesem Moment zu unterschätzen kam einer wirklich schwierigen Aufgabe gleich. Denn der ehemalige Anführer der Song war nicht einmal in der Lage, seinen Kopf aus dem erniedrigenden Griff des Befehlsgebers zu befreien. Auch konnte er nicht erkennen, wie das Gesicht aussah, das vor seinen Augen schwebte und ihn vermutlich musterte.
Erneut wurde er weiter gezerrt, nochmal durch dunkle Gänge - er verlor völlig die Orientierung. Sein Richtungssinn konnte gerade noch ausmachen, wo oben und unten war. Schließlich hielten sie für einen Moment an, warteten, dann ging vor ihnen eine elektrische Doppelflügeltür auf. Vermutlich hatten sie gerade eine Schleuse passiert.
"Dr. Bianco, hier ist der spezielle Gefangene, den Sie sich ansehen und die nächsten Wochen betreuen sollen."