REJ - Der spezielle Gefangene. Beli / Tanja Sorianumera / Giesecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Beli / Tanja Sorianumera / Giesecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741896453
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beiden Seiten auf und sechs ShaoSetFai-Soldaten kamen auf die Krankenstation gestapft. In ihrer Mitte hatten sie einen Mann, der wohl eigentlich von großer Statur war, allerdings völlig verkrümmt in sich zusammengesunken war. Noah legte den Bericht zur Seite und musterte den Neuankömmling von oben bis unten. So sah also der gefasste Anführer der Terrorgruppe "Song" aus. Erst hatte er von seiner Festnahme in den Nachrichten gehört, dann hatte man ihn informiert, dass der Mann in das Staatsgefängnis verlegt werden sollte und er eine spezielle medizinische Versorgung benötigen würde. Und Dr. Noah Bianco sollte sich darum kümmern. Für diesen Nachmittag hatte der junge Arzt extra alle Termine abgesagt, um sich Zeit für die Ankunft des Song-Kommendans zu nehmen und bei dessen Aufnahme nicht gestört zu werden. Und irgendwie hatte er sich da diesen Mann noch anders vorgestellt.

      Der Terror der Song verbreitete Angst und Schrecken. Die Medien berichteten immer wieder von ihren Taten, die die Regierung torpedierten und den Komfort des Alaver-Bezirks ThanaVelu beeinträchtigten. Auch hatten sie schon unbeteiligte Opfer gefordert. Das Bild, dass er aus den Nachrichten kannte, welches auch Rej Lio'Tas Akte zierte, die er gerade auf das Bord neben sich gelegt hatte, war in Noahs Kopf verbunden mit einem harten, entschlossenen und vor allem gefährlichen und bösen Mann. Einem Mann, der vermutlich lachte, wenn er hörte, dass es zivile Opfer gegeben hatte.

      Zwar hatte der Arzt gehört, dass die Videoaufnahmen der Verhandlung vom Vortag nicht den erwünschten Effekt bei der Bevölkerung erzielen hatten können, immerhin hatte der Song-Kommendan in aller Öffentlichkeit seine Schuld an den unschuldigen Opfern eingeräumt, sich zudem als dazu verantwortlich bekannt und auch dazu bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Aber Noah selbst hatte die Aufnahmen nicht gesehen. Vielleicht auch, weil er befürchtete, dann einen Funken Sympathie für den Mann zu empfinden. Und für ihn sollte Rej Lio'Ta das personifizierte Böse bleiben.

      Doch als der Song nun vor ihm, völlig verkrümmt und mit Schmerzverzerrtem Gesicht, in dem Schraubstockartigen Griff der ShaoSetFai hing, begann die Vorstellung des ultimativen Bösen in Noah zu schwanken, das Bild zu bröckeln. In der Akte hatte er von den verheerenden Verletzungen erfahren, mit denen sie den Mann aufgegriffen hatten. Einige noch nicht ausgeheilte Knochenbrüche, Verletzungen des Rückenmarks und schwere teilweise auch innerliche Verbrennungen. Auch, dass der Song-Kommendan nur noch eine Niere und einen Lungenflügel besaß, war dort notiert gewesen. Trotzdem hatte die Vorstellung bis jetzt nicht in das Bild gepasst, dass sich der Doktor von dem Terroristenanführer gemacht hatte.

      Nun sah er jedoch mit einem Blick, dass dieser Mann keinerlei Gefahr darstellte. "Bringen Sie ihn her", hörte sich Noah zu den ShaoSetFai sagen und deutete mit dem Plastift, einem nützlichen Multifunktionswerkzeug, auf die Diagnoseliege. Die Soldaten rührten sich nicht, stattdessen wollte der Gruppenleiter widersprechen. "Der Direktor hat die höchste Sicherheitsstufe bei dem speziellen Gefangenen angeordnet. Keine Abnahme der Handschellen außerhalb der Zelle."

      Noch einmal ließ der Arzt seinen Blick über den in sich zusammen gefallenen Körper des Sträflings gleiten, dann schüttelte er entschieden den Kopf. "Sehen Sie nicht, der Mann kann doch nicht mal stehen. Legen Sie ihn hier auf die Liege. Wir passen schon auf. Die Fesseln bleiben ja dran."

      Das schien dem XSF-Kommandanten zu genügen. Die Soldaten setzten sich in Bewegung und brachten Rej Lio'Ta zu der Liege. Sie hoben ihn hinauf und Noah half dabei, ihn auf die linke Seite zu drehen, da seine Hände auf dem Rücken mit einer Manschette zusammen gebunden waren. Er fixierte den Kopf mit einem Kissen und winkelte seine Beine leicht an, so dass der Körper nicht nach vorne kippte. Der Arzt beobachtete, wie sich das Gesicht des Gefangenen ein wenig entspannte, als der Zug auf seinen geschundenen Rücken endlich nach ließ.

      "Schon in Ordnung. Sie können gehen", meinte er zu den ShaoSetFai und unterstützte seine Worte mit einer scheuchenden Geste. Die Situation war allein durch ihre Anwesenheit um einiges angespannter, als sie hätte sein müssen, und dadurch auch unberechenbarer und gefährlicher. Noah mochte es überhaupt nicht, die Wachposten auf seiner Krankenstation zu haben.

      Der XSF-Kommandant streckte ihm auf einem elektronischen Klemmbrett ein Dokument entgegen. "Für die Übergabe brauchen wir noch eine Unterschrift." Noah griff nach dem Block und kritzelte mit dem Plastift seinen Namen irgendwo in die Tabelle. Dann verstaute er das Schreibgerät in seiner Brusttasche und wartete darauf, dass die Soldaten die Krankenstation verließen.

      "Zwei meiner Leute sind gleich vor der Tür, Dr. Bianco. Falls Sie Hilfe benötigen, sind sie sofort zur Stelle." Der Arzt nickte das Angebot ab und beobachtete, wie die sechs ShaoSetFai den Raum verließen. Diese waren vielleicht geschult und dazu in der Lage, Gefahrenpotentiale einzuschätzen, aber sie hatten nicht das nötige medizinische Know-How, um zu erkennen, dass von Rej Lio'Ta wirklich keinerlei Bedrohung ausging. Der desolate Zustand des Häftlings half Noah dabei, Abstand zu seiner zuvor gemachten Vorstellung von dem Terroristen zu gewinnen. Vor ihm lag ein Gefangener, wie die anderen herkömmlichen Schwerverbrecher hier auch. Und dieser spezielle Gefangene war, so schwer es unter den Gesichtspunkten des Terrors, der von ihm ausgegangen war, auch zu akzeptieren war, in erster Linie ein Mensch.

      Als die Schleusentore sich geschlossen hatten, beugte er sich über Rej Lio'Ta und musterte sein Gesicht, spulte dann seine Begrüßungsrede ab. "Sie befinden sich hier im Staatsgefängnis von Xiantiao auf der Krankenstation. Jeder neue Häftling kommt erst einmal zu mir. Ich bin Dr. Noah Bianco, der leitende Mediziner hier. Zuallererst werde ich die Aufnahme hier durchführen, Sie gründlich untersuchen. Im Anschluss werden Sie dann zu Ihrem Zellenblock überstellt. In Ihrem speziellen Fall werden wir uns täglich hier sehen, da Sie medizinische Leistungen benötigen. Sie können sich an mich wenden, wenn Sie gesundheitliche Schwierigkeiten oder Probleme haben oder bekommen sollten. Auch wenn Sie psychologische Unterstützung benötigen, kann ich Ihnen innerhalb eines gewissen Rahmens ein Ansprechpartner sein. Sie können sich mit jeglichen Fragen an mich wenden. Durch Ihren körperlichen Zustand erhalten Sie das Recht, jederzeit auf die Krankenstation gebracht zu werden, wenn Sie medizinische Leistungen benötigen. Außerdem sind spezielle Haftverschärfungen für Sie ausgeschlossen."

      Noah war sich nicht einmal sicher, ob der Gefangene ihm zuhörte. Seine müden blauen Augen waren unfokussiert, auf einen Fleck in der Ferne gerichtet, seine Atmung ging ruhig. Auch das hatte der Mediziner in der Akte über den Song-Kommendan gelesen: Er hatte eine starke Einschränkung der Sehkraft durch schwere Nervenschäden erlitten. Dass der Mann ihn nicht ansah bedeutete also nicht, dass er ihn absichtlich ignorierte. "Verstehen Sie mich, Herr Lio'Ta?", fragte er deshalb deutlich. "Können Sie mir folgen?" Er wusste nicht, wie grob sie mit dem Gefangenen beim Transport umgegangen waren und ob er überhaupt bei vollem Bewusstsein war.

      "Ich verstehe Sie", antwortete der Häftling matt. Noah nickte, mehr für sich selbst, als für sein Gegenüber. "Gut." Er machte einen Bogen um die Liege und öffnete dann mithilfe seines funkgesteuerten Armdisplays die Fesseln an Rejs Handgelenken. "Erschrecken Sie bitte nicht", meinte Noah ruhig, als er die Handgelenke des Gefangenen berührte, um die Handschellen zu lösen. "Ich mache Sie jetzt los. Bitte tun Sie mir den Gefallen und rühren sich nicht, solange ich es nicht von Ihnen verlange. Ich möchte nicht die ShaoSetFai rufen müssen." Der Song-Kommendan gab mit einem knappen Nicken seine Zustimmung.

      Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Noah sich in Gefahr gebracht hatte, weil er das Gefahrenpotential der Häftlinge falsch eingeschätzt hatte. Aber diese taten sich damit selbstverständlich keinen Gefallen. Das Schlimmste was dem Medic dabei bis jetzt passiert war, waren ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe oder ein paar Prellungen gewesen, doch für den Regelüberschreitenden Häftling bedeutete ein Übergriff auf den Arzt unangenehme Haftverschärfungen und harte Strafen.

      Vorsichtig hob er den rechten Arm des Gefangenen von dessen Rücken und legte ihn nach vorne. Obwohl seine schweren Verbrennungen von silbern beschichteten Mullbinden bedeckt waren und der Arm in einer Schiene steckte, war zu erkennen, dass sich Elektrizität verheerend auf die Gliedmaße ausgewirkt hatte. Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, die nicht von dem Verband verdeckt waren, waren wie zu einer Klaue verkrampft und lila und blau angelaufen. Die Fesseln des Obersten Gerichtes von Xiantiao hatten sicherlich nicht zur Besserung des Zustandes beigetragen. Vermutlich hätte man ihm den Arm durch einen Cyberarm ersetzt, wenn er kein Gefangener mit Todesurteil gewesen wäre.

      "Ich