„Du sollst stillhalten!“, brüllte er den Jungen an.
Gewaltsam band er die Kette um Bassams linken Fußknöchel, der sofort bläulich anlief. Das andere Ende befestigte er am Gussofen und versiegelte es mit einem Schloss. Den Schlüssel steckte er in die Hosentasche und setzte sich zu uns an den Tisch. Ich war einfach nur sprachlos.
„Bitte, Siamak, ich werde nie wieder weglaufen“, flehte Bassam, während er an der Kette zerrte. Die Haut an seinem Knöchel war bereits nach kurzer Zeit wund gerieben.
„Jetzt nicht mehr“, sagte mein Baba trocken, ohne Bassam dabei in die Augen blicken.
Mir tat er so leid, dass ich zu ihm gehen wollte.
„Bleib sitzen!“, befahl mein Baba und drückte mich zurück auf den Stuhl.
Elham begann, das Abendessen vorzubereiten. Die Unbekümmertheit, mit der sie mit dieser Situation umging, erstaunte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich das, was meine Eltern taten, als falsch und schämte mich deswegen. Ich machte mir selbst Vorwürfe, nicht weil ich Mitleid mit Bassam hatte, sondern vielmehr weil ich die Erziehungsmethoden meiner Eltern bezweifelte. Ich hielt mich damals auf einen Schlag für einen schlechten Sohn. Auf den Gedanken das ich mit meinem Zweifel richtig lag, kam ich nicht mal.
***
Yassir griff in den Boden und bekam zwei Steine zu fassen. Seine Hände zitterten, als er sie zu Fäusten ballte, um das Gestein zu zerdrücken. Es knirschte, aber zerfiel nicht. Angestrengt versuchte er sich das Versprechen, das er in der Moschee gegeben hatte, in Erinnerung zu rufen. Keinesfalls wollte er Djamal verurteilen, strafen oder verantwortlich dafür machen, was mit seinem Sohn geschehen war. Jetzt zitterte er am ganzen Leib und rang um Fassung.
„Wieso erzählst du mir das?“, fragte er gequält.
„Damit Sie verstehen.“ Djamal hörte sich besonnen an. Ein junger Mann, der niemals die Nerven zu verlieren schien.
„Was soll ich verstehen?!“, sagte Yassir nun etwas lauter. „Was soll ich verstehen?!“
Mit voller Wucht schmiss er die Steine durch das Gitter. Das Echo hielt nicht lange an, ein dumpfes, kurzes Geräusch.
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die kann man nicht auf Anhieb begreifen. Denn sie sind winzig kleine Mosaike eines Gesamtbildes. Ich habe Ihnen bisher nur ein kleines Mosaik gegeben. Erwarten Sie etwa, dass Sie jetzt schon das ganze Werk erkennen?“
„Ich weiß nur, dass ihr meinen Bassam gequält habt, und das ist unverzeihlich.“
Schwer atmend stützte sich Yassir auf dem Boden ab. Er war am Ende und wusste nicht, ob er sich überhaupt noch überwinden konnte, weitere Einzelheiten aus dem Leben Bassams zu erfahren.
„Ich denke, es ist für heute genug. Sie sollten sich ausruhen. Ich will Ihnen nicht zu viel zumuten.“
Völlig aufgewühlt stand Yassir auf und setzte sich auf den blauen Stuhl, der unter seiner Last leise knarrte. Er blickte in die Ferne. Die Landschaft so eintönig und trocken, wie sein derzeitiges Leben. An manchen Stellen war der Boden aufgrund der Dürre rissig.
„Sind Sie noch da?“, fragte Djamal von unten.
„Ja“, antwortete Yassir.
Hinter sich konnte er das Polizeiauto hören, das sich im langsamen Tempo der Gefängniszelle näherte. Zwei Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Die beiden Polizisten hatten also wieder gemeinsam Dienst. Verzweifelt vergrub Yassir sein Gesicht in den Händen. Wie beim letzten Mal legte sich sanft eine Hand auf seine Schulter. Die grellen Sonnenstrahlen verhinderten einen genauen Blick, aber vage konnte Yassir das schmale Gesicht Omids erkennen.
„Gehen wir“, sagte der Polizist nur.
Seit seinen Besuchen war es das erste Mal, dass er von diesen Ort so schnell wie möglich verschwinden wollte, daher stand er ohne zu zögern auf und folgte Omid zum Wagen. Mehran lehnte an der Kühlerhaube und rauchte.
„Hat der Bastard Ihnen etwas Wichtiges erzählt?“, fragte er mit einem neckischen Grinsen.
Yassir ignorierte den kleinwüchsigen Polizisten und stieg sofort auf den Rücksitz. Aus dem Fenster sah er noch zum Gitter. Wie einsame Insel umgeben von einem Meer aus Dürre war es da, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Niemand schien über die Existenz einer solchen Gefängniszelle Kenntnis zu haben. Es war offensichtlich ein streng gehütetes Geheimnis des iranischen Rechtssystems. Yassir war es zu dem Zeitpunkt egal, unter welch unmenschlichen Bedingungen Djamal verwahrt wurde. Sein Groll gegen ihn war jetzt zu groß geworden, um Mitleid zu empfinden. Das was er vermeiden wollte, war nun eingetreten. Er verspürte Hass und Trauer.
4
Nachts konnte ich kaum schlafen. Die Ketten, die mein Baba besorgt hatte, schleiften laut über den harten Boden, wenn Bassam sich im Schlaf wandte. Es war ein grausames Geräusch, von dem ich jedes Mal wach wurde. Ich hörte ihn leise weinen und ging zu ihm hin. Wie ein Häufchen Elend lag er neben dem Ofen. Das fade Mondlicht, das durch die Fensteröffnung drang, schien auf sein knochiges Gesicht. Ich kniete mich nieder. Der Boden fühlte sich unheimlich kalt unter meinen Füßen an und nach kurzer Zeit zitterte ich am ganzen Leib. Wie schlimm erst musste Bassam frieren? Als Decke hatte man ihm nur einen zerlumpten Sack gegeben, der an vielen Stellen löchrig war.
„Du musst jetzt ruhig sein, sonst wird noch Siamak wach“, flüsterte ich ihm tröstend zu, während ich mit meinen warmen Fingern durch sein Haar fuhr. Es war lang und fettig, weil meine Mutter es eine Ewigkeit nicht mehr geschnitten hatte. Meistens nahm sie dazu eine rostige Schere, mit der sie grob alle langen Enden kürzte. Unsanft riss sie dabei Bassams Kopf von einer Seite zur anderen. Seine Frisur wirkte danach noch struppiger. Den Gestank nahm ich schon lange nicht mehr war. Nach der Zeit gewöhnte man sich daran. Allerdings konnte ich meine Mitschüler verstehen. Für Außenstehende musste so ein Geruch unerträglich sein. Bassam hielt sofort still, als ich ihn berührte. Denn ich war der Einzige, auf den er wirklich hörte und dem er vertraute. Zwar befolgte er auch die Befehle meiner Eltern, aber vielmehr aus Furcht vor ihnen. Stumm hockte ich da und streichelte Bassam. Für meine Eltern war er nichts anderes als ein Haustier, aber ich fühlte mich ihm verbunden, obwohl ich gelegentlich auch unmenschlich zu ihm sein konnte. Heute kann ich sagen, dass er mein Baradar war. Innerlich liebte ich Bassam wie einen Bruder, aber ich konnte ihm meine Wärme und Zuneigung nicht immer geben. Zu sehr hatten meine Eltern durch ihre Erziehung das Verhältnis zu ihm vergiftet. Sie verwirrten mich bereits in sehr jungen Jahren. Einerseits gaben sie mir all ihre Liebe und opferten sogar ihr ganzes Vermögen, um mir eine aussichtsreiche Zukunft zu ermöglichen. Dafür arbeitete sich mein Baba auf dem Feld die Hände blutig. Andererseits sah ich auch ihre hässlichen Charakterzüge, wenn sie Bassam quälten oder unrechtmäßig bestraften.
Ich legte mich wieder hin. Zum Glück war mein Baba nicht aufgewacht. Seelenruhig lag er neben Elham, die ihren Arm auf seine Brust gelegt hatte.
Doch irgendwann in der Nacht hörte man wieder das Schleifgeräusch. Ungewollt verursacht von Bassam. Seine verkümmerten Muskeln, rastlos, durch wilde Träume, die durch seinen Kopf spukten. Schon bei der kleinsten Bewegung rieb die schwere Kette über den Boden und machte einen unheimlichen Lärm. Die gleichmäßige Atmung meines Babas stoppte abrupt und er sprang regelrecht wütend von der Pritsche. Elham und ich wachten dabei auf.
„Dieser Junge macht nur Ärger!“, schrie er außer sich, sodass auch Bassam schreckhaft aus dem Schlaf gerissen wurde. Mit der flachen Hand schlug mein Baba einige Male auf ihn ein.
„Du