„Ihr beide kommt sofort ins Klassenzimmer!“, befahl der Lehrer.
Während uns Nersy belehrte, wie wir uns in der Schule zu verhalten hätten, blickte mir Jamshed zornig ins Gesicht. Ich hatte an diesem Tag einen Sieg über ihn errungen, und das wusste er. Daher konnte ich mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Was gibt es da zu lachen, Djamal? Findest du das komisch?“, fragte Nersy.
„Nein“, antwortete ich und zog eine reuevolle Miene. Dann lächelte ich wieder Jamshed frech an. Ich fühlte mich wie ein Gewinner.
***
Meine Mutter lag immer noch auf der Pritsche. Ich fasste ihr an die Stirn. Sie glühte.
„Was ist mit dir?“, fragte ich. „Madar, was ist mit dir?“
„Djamal“, flüsterte sie kraftlos. „Ich brauche Hilfe.“
Bassam kauerte ratlos in der Ecke.
„Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?!“, schimpfte ich. „Du hättest mich oder Siamak holen müssen.“
„Ich darf das Haus doch nicht verlassen“, verteidigte sich Bassam verängstigt. Einen solch harten Umgangston war er von mir nicht gewohnt.
„Du bist manchmal so dumm“, sagte ich ohne nachzudenken.
Bassam hatte beide Hände hinter dem Rücken versteckt.
„Was hast du da?“
„Nichts.“
Er presste seinen Körper enger an die schmutzige Wand, als ich mich ihm näherte.
„Du versteckst doch da was.“
Zögerlich zog Bassam die Hände hinter seinem Rücken hervor.
„Ein Ratte!“, rief ich.
„Bitte tu ihm nichts. Er ist mein Freund.“ Bassam bedeckte das Tier mit einer Handfläche, um es zu schützen, während die Ratte kaum genug Platz auf der anderen fand. Der fleischige Schwanz bewegte sich, wie ein Wurm. Das graue Fell glänzte ölig im Licht, als hätte man das Tier eingefettet. Von Nersy wusste ich, dass Ratten schmutzige Tiere waren, die Krankheiten übertragen konnten. Plötzlich war ich unheimlich wütend auf Bassam.
„Raus hier!“, brüllte ich, wie mein Baba.
Sofort rannte Bassam aus dem Haus. Diesmal befolgte er meinen Befehl aus Furcht.
„Das Tier hat Elham krank gemacht!“, rief ich noch hinterher.
„Aber er ist mein Freund“, sagte Bassam, während er sanft über das Fell strich.
Ich ging zu meiner Mutter. Im Fieberwahn murmelte sie etwas Unverständliches.
„Du bleibt hier. Ich hole Hilfe“, sagte ich zu Bassam und lief an ihm vorbei.
Ein leichter Wind wehte und trieb lose Erde vor sich her. Verdörrte Weizenschalen wirbelten durch die Luft, die mir in die Augen flogen. Blinzelnd suchte ich meinen Baba. An die vierzig Männer arbeiteten an diesem Ort. Neue Saat musste ausgestreut werden, sodass das gesamte Feld umgepflügt wurde, damit frische Erde an die Oberfläche kam und die durch Hitze trockene, poröse nach unten gewendet wurde. Die Arbeiter, deren Gesichter schweißgebadet waren, trieben keuchend ihr Gerät gewaltsam in den Boden. Mein Baba war nirgendwo in Sichtweite. Ich machte mir große Sorgen um Elham. Gleichzeitig verspürte ich eine riesige Wut auf Bassam. Seine Ratte hatte sie krank gemacht. Endlich entdeckte ich meinen Baba. Fleißig schwang er den Spaten und arbeitete sich Stück für Stück über den Feldboden. Ich bemerkte, dass seine Reihe am längsten war und die anderen Arbeiter weit hinter ihm lagen, daher hatte ich ihn nicht auf Anhieb finden können.
„Baba!“, rief ich, während ich auf ihn zulief.
„Bassam“, sagte er überrascht und unterbrach seine Arbeit. Mit dem Handrücken wischte er sich über die nasse Stirn. „Was machst du hier und was ist mit deinem Gesicht?“ Besorgt hob er mein Kinn, um sich die Blessuren, die ich Jamshed zu verdanken hatte, näher anzusehen.
„Baba!“ Ich musste erstmal tief einatmen, so schnell war ich gerannt. Die staubige Luft hatte mir zugesetzt und meine Lungen fühlten sich schwer an. „Mutter ist krank!“
„Was!?“ Mein Baba ließ sofort den rostigen Spaten fallen.
„Hussein!“, hörte ich plötzlich hinter mir eine Stimme. „Wieso arbeitest du nicht weiter? Du wirst nicht fürs Reden bezahlt.“
Nilan, der korpulente Landbesitzer, stand hinter mir. Die Arme hatte er in die Hüften gestemmt und sein Blick streng auf meinen Baba gerichtet. Der ungepflegte, lange Bart Nilans wurde gelegentlich vom Wind erfasst und schaukelte wie ein Pendel von einer Seite zur anderen. Ich konnte ihn nicht leiden, da er den ganzen Tag auf einem Stuhl am Feldrand saß, von wo er die anderen überwachte, die sich währenddessen die Hände rissig arbeiteten.
„Ich muss nach Hause“, sagte mein Baba. „Meine Frau ist krank.“
„Und was ist mit der Arbeit?“ Der Landbesitzer zeigte keinerlei Verständnis. „Wir wollen heute noch aussäen.“
Wortlos ging mein Baba an ihm vorbei.
„Wenn du jetzt gehst, streich ich dir den gesamten Wochenlohn“, drohte Nilan.
Mein Baba blieb bei diesen Worten kurz stehen, aber wirkte trotzdem unbeeindruckt.
„Dann tu es einfach“, meinte er und ging weiter. Er nahm mich an die Hand. Zusammen liefen wir eilig übers Feld. Die anderen beachteten uns nicht und waren vertieft in ihre Abreit. Kein einziger Baum stand in der Nähe, der ihnen bei der brütenden Hitze Schatten spenden konnte. Über die Schulter hinweg blickte ich Nilan scharf an. Er sollte wissen, dass ich ihn verabscheute.
Mein Baba fasste meiner Mutter an die heiße Stirn. Die besorgte Miene verriet, dass er sie wirklich von ganzem Herzen liebte.
„Endlich bist du da“, flüsterte Elham kraftlos. Sie konnte ihre Augen kaum öffnen, sodass bei dem Versuch ihre Lider zitterten.
„Ich bring dich zu einem Arzt“, sagte mein Baba, in dessen Stimme eine Fürsorge lag, wie ich sie nur selten erlebt habe.
Bassam saß in der Ecke. Die Ratte hatte er nicht mehr bei sich. Ich zögerte, meinem Baba von ihr zu erzählen. Obwohl Bassam nicht direkt schuld an der Erkrankung meiner Mutter gewesen war, so befürchtete ich trotzdem, dass mein Baba ihn als Sündenbock abstempeln würde. Eine Bestrafung wäre für Bassam die logische Folge gewesen. Der Arzt musste allerdings auch wissen, weswegen Elham erkrankt war, damit er ihr helfen konnte.
„Wir haben Ratten im Haus“,teilte ich ihm mit.
„Ratten!“, wiederholte mein Baba entsetzt.
„Ja, sie haben wahrscheinlich Madar krank gemacht.“
Bassam blickte überrascht auf. Trotz meiner Wut, hatte ich ihn nicht verraten.
Mein Baba wollte Bassam an den Ofen Ketten, bevor er meine Mutter ins Dorf trug. Panik stand ihm in den Augen, als Siamak mit der schwarzen Kette auf ihn zukam. Sie schleifte mit einem kratzenden Geräusch über den Boden.
„Ich werde hierbleiben und darauf achten, dass er nicht wegläuft“, sagte ich. „Bring Madar bitte schnell zum Arzt.“