Seufzend stand Iraj auf und ging zum Fenster. Eine Weile blickte er hinaus, ohne etwas zu sagen.
„Mord“, fiel das entscheidende Wort plötzlich aus seinem Mund.
„Mord!“, wiederholte Yassir entsetzt.
„Ja, er hat einen Menschen getötet. Oder glauben Sie etwa, dass wir ihn in eine so grausame Gefängniszelle stecken nur weil er einen Apfel gestohlen hat.“
„Nein, natürlich nicht, aber ich dachte nicht gleich an Mord. Hussein kam mir nicht gerade wie ein gewalttätiger Mensch vor. Immerhin hat er sogar Medizin an der Universität von Teheran studiert.“
„Das ist irrelevant.“ Der Polizeichef setzte sich wieder hin und massierte sich den Nacken.
„Kann ich ihn wieder mitnehmen?“
Mehran stand in der Tür.
„Ja, nehmen Sie ihn wieder mit“, antwortete Iraj. Der Polizeichef wirkte schlagartig resigniert. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Yassir scheute sich allerdings nachzufragen, sodass er einfach aufstand und Mehran folgte.
***
Ihre Nasenflügel bewegten sich leicht, bei jedem Atemzug. Yassir beobachtete sie gern, wenn sie bereits schlief. In solchen Momenten strahlte sie eine Friedfertigkeit aus, die ihn an schönere Zeiten erinnerte. Zeiten, in denen sie noch eine heile Familie waren. Der Kern ihrer Glückseligkeit, Bassam, war ihnen gewaltsam entrissen geworden und ihr Leben glich nun einer trostlosen Landschaft. Yassir ging wieder in die Küche, statt sich zu seiner Frau zu legen. Er konnte ohnehin nicht schlafen. Zu viele Gedanken quälten ihn. Djamals Geschichte war auch seine Geschichte, weil Bassam ein Teil von ihr war. Zurzeit fühlte er sich leer, verspürte weder Hunger, Durst noch Müdigkeit. So saß er die halbe Nacht auf dem Küchenstuhl und blickte aus dem Fenster. Die Stadt lag friedlich vor ihm, wie ein schlafendes Kind. Nur aus der Ferne konnte er das tosende Treiben im Stadtkern erahnen.
„Du bist ja da“, hörte er die zerbrechliche Stimme seiner Frau.
Sie hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass er sie daran gehindert hatte, mit Djamal zu reden. Auch hatte er ihr Informationen verschwiegen, was sie spürte.
„Was hat er erzählt?“, fragte sie mit der Gewissheit, dass er ihr nichts sagen würde, obwohl Yassir einen kleinen Funken Hoffnung heraushören konnte, den er allerdings mit seiner Antwort ersticken würde.
„Wie er unseren Sohn kennengelernt hat, Azizam“, antwortete Yassir. „Geh wieder ins Bett. Du siehst sehr mitgenommen aus.“
Statt Worten schleuderte sie ihm ein verächtliches Schnauben entgegen, bevor sie sich wieder ins Schlafzimmer zurückzog. Yassir beschloss, auf dem Boden der Küche zu schlafen. Ohnehin würde er von Nia nur Verachtung ernten, wenn er sich in ihrer Nähe befand. Alles war wieder wie vorher. Er rollte den Teppich aus, auf dem er normalerweise betete, und legte sich nieder. Nachdenklich starrte er die rissige Zimmerdecke an. Die Dunkelheit, die ihn wie eine Hülle der Ungewissheit umschloss, ließ ihn an die Finsternis in Husseins Gefängniszelle denken. Erdrückende Schwärze, die einem den Atem rauben konnte. Schließlich fragte er sich, wie ein Mensch sich so etwas freiwillig antun konnte. Wie viel Willenskraft war dafür nötig, tagelang in einem finsteren Loch zu fristen, ohne Licht? Und Nachts in unerträglicher Kälte und Einsamkeit seine Schuld abzusitzen, während jenseits der Einöde das Leben weiter floss? Welchen unsäglichen Mord hatte Djamal Hussein begangen, dass er sich selbst dieser Tortur aussetzte? Fragen über Fragen, die drohten, Yassirs Kopf zu sprengen. Dazu kamen noch die Dunkelheit in seinem Herzen, die Hoffnung, Bassam wieder in seine Arme nehmen zu können und das Leid, das seinem Sohn wiederfahren war und das ihn genauso quälte, als wäre er selbst davon betroffen gewesen.
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