„Kannst du nichts richtig machen!?“, brüllte ihn mein Baba eines Tages an. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, zu nichts. Hast du mich gehört!“
Da Bassam hungrig war, hatte er sich hastig ein Stück von dem frischeren Brot genommen. In den Augen meines Babas ein schweres Vergehen. Denn die guten Lebensmittel durfte er nicht essen.
„Es war keine Absicht, Siamak“, stöhnte er, während er sich schützend seine Hände auf den Kopf legte.
Ich war noch wegen des Schahspiels wütend auf Bassam und wollte ihn daher nicht mehr verteidigen. Mit verschränkten Armen sah ich dabei zu, wie Siamak ihn grob an die Schulter packte. Heute kann ich nicht verstehen, wie ich so herzlos und bösartig sein konnte. Ich war nun mal ein Kind, die manchmal sogar grausamer als jeder Erwachsene sein konnten.
„Das passiert nicht noch mal“, meinte mein Baba warnend, während er Bassam drohend anblickte und ihm das Brot langsam entriss.
Wenn ich heute zurückblicke, erfüllt mich mein Herz mit Reue. Wieso nur haben wir unseren Bassam so schlecht behandelt? Es ist eine Frage, die mich jetzt noch quält.
***
Immer noch saß Yassir im Schneidersitz auf dem Boden. Die Fassung, die er kurzzeitig wiedererlangt hatte, hatte sich verflüchtigt.
„Was habt ihr meinem Sohn angetan?“, sagte er zunächst leise. „Was habt ihr ihm nur angetan!?“ Nun schrie er ins Loch hinein. Seine Finger griffen angespannt um die Gitterstäbe. Von unten kam eine Zeit lang keine Antwort.
„Es ist fast dunkel. Sie sollten jetzt besser nach Hause fahren.“
Yassir spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.
„Er hat recht. Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr Yassir herum. Einer der beiden Polizisten stand plötzlich da. So sehr hatte ihn die Erzählung des Gefangenen entsetzt, dass er das Motorengeräusch des Polizeiautos nicht wahrgenommen hatte.
„Nein, warten Sie.“ Aufgebracht riss sich Yassir los. „Ich muss noch mit ihm reden. Hörst du mich da unten!“
Doch die einzige Antwort, die er bekam, war seine eigene Stimme, die als Echo wieder vom Grund hinauf hallte.
„Das bringt nichts“, meinte der Polizist. „Wenn der nichts sagen will, bekommen Sie nichts aus dem heraus. Selbst wenn man ihm die Scheiße aus dem Leib prügelt.“
Yassir raufte sich die Haare und erhob sich.
„Wenn Sie jetzt nicht kommen, fahre ich einfach ohne Sie los“, warnte der Polizist und machte sich wieder auf den Weg zum Dienstwagen.
Die Sonne war schon zur Hälfte untergegangen. Es sah so aus, als wenn sie vom Erdboden verschluckt worden war. Stiller kam es Yassir hier vor als am Vortag. Ein leichter Wind umwehte seine Nasenspitze und unter seinen Sohlen knirschte das Gestein. Müde ließ sich der Polizist hinter das Steuer fallen, während Yassir die Hintertür öffnete.
„Sie können auch vorne sitzen, wenn Sie wollen.“
Erst durch die dumpfe Innenbeleuchtung des Autos erkannte Yassir, dass der größere Polizist nicht anwesend war.
„Nein, danke“, lehnte er ab.
Der Mann zuckte mit den Schultern und fuhr los.
„Ach da fällt mir ein, dass der Polizeichef Sie sprechen wollte. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, bringe ich Sie zuerst zum Präsidium, bevor ich Sie nach Hause fahre.“
Gedankenverloren blickte Yassir aus dem Seitenfenster. Längst überhört hatte er die Worte.
***
Noch zu später Stunde saß Polizeichef Iraj am Schreibtisch, wo er konzentriert einige Dokumente studierte. Hin und wieder legte er ein Blatt nieder, um darauf seine Signatur zu hinterlassen. Erst spät blickte er auf und bemerkte, dass Yassir in der offenen Tür stand.
„Aghaye Navid, sagen Sie doch etwas. Bitte treten Sie ein.“ Ein warmes Lächeln verzierte seine Lippen.
Wortlos betrat Yassir das Büro und blieb direkt vor Iraj stehen.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Sie noch einmal sprechen wollte.“
„Ja, das tue ich.“
Das Lächeln Irajs verblasste langsam und die gewohnte Ernsthaftigkeit trat wieder zum Vorschein.
„Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch, Aghaye Navid“, fing der Polizeichef seine Rede an. „Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich habe ständig das Bedürfnis, über alles und jeden Menschen gut informiert zu sein. Ich brauche Informationen sozusagen, wie die Luft zum Atmen.“
„Welche Informationen fehlen Ihnen denn, Aghaye Iraj?“
„Zum Beispiel, was hat dieser Bursche mit Ihnen vor? Was erhoffen Sie sich von den Treffen mit ihm?“
Yassir fühlte sich zu kraftlos für ein solches Gespräch, daher versuchte er mit Mühe den Respekt zu wahren.
„Natürlich will ich meinen Sohn wiederfinden. Das ist mein einziges Ziel.“
„Vielleicht wäre es besser, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen. Der Richter hatte zwar seine Zustimmung für ein solches Arrangement gegeben, aber ich hielt es von Anfang an für reine Zeitverschwendung.“
„Das können Sie nicht von mir verlangen“, sagte Yassir. „Das ist die einzige Chance meinen Sohn wiederzufinden. Wenn ich die nicht nutze, werde ich es bis ans Ende meines Leben bereuen.“
Iraj atmete einmal tief durch. Sein Blick drückte mitleidiges Bedauern aus.
„Vielleicht habe ich mich gerade nicht deutlich ausgedrückt, als ich meine Frage stellte. Wie hoch denken Sie sind Ihre Chancen Ihren Sohn wiederzufinden?“
„Was sollen diese Fragen?“ Nun wurde Yassir etwas lauter. Er befand sich am Ende seiner Kräfte und das Gespräch zehrte an seinen bereits angeschlagenen Nerven.
Eine Zeit lang schwiegen beide.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht…“
„Ich möchte Sie nur vor diesen Hussein warnen. Er ist ein sehr gerissener Bursche. Ehe Sie sich versehen, können Sie zur Marionette seines listigen Spiels werden. Also bitte ich Sie, sehen Sie sich vor.“ Iraj war ihm direkt ins Wort gefallen.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht weiß?“
Angespannt nahm er sich die Schirmmütze vom Kopf, die er mit beiden Händen zerknüllte. In gewohnter Manier zog Iraj seine Stirnfalten hoch, das machte ihn älter. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, das ist alles.“
***
„Morgen um zehn werde ich Sie wieder abholen“, kündigte der Polizist an, als er in die kleine Gasse einbog. „Mein Name ist übrigens Mehran und mein Kollege, der heute nicht mitkommen konnte, heißt Omid.“
Argwöhnisch blickte Yassir durch das schwarze Gitter.
„Ich dachte nur, das wäre angebracht, da wir uns die nächsten Tage sehen werden“, fing Mehran an zu stottern, als Yassir immer noch schwieg.
Das Auto verlangsamte sich und blieb schließlich vor seiner Behausung stehen. Drinnen brannte Licht. Nia war noch wach und erwartete wieder eine Antwort. Am liebsten wollte Yassir weiterfahren, um die Nacht in einem Hotel zu verbringen. So sehr fürchtete er ihre Reaktion. Wut, Hass und Enttäuschung würden wieder in ihr aufleben, wenn sie wüsste, wie Bassam gelitten hatte. Doch dann stieg er aus und Mehran fuhr weg. Sehnsüchtig blickte Yassir dem Wagen nach.
Nia stand im Badezimmer, wo sie sich ihre Haare kämmte und sich dabei