Tief im Inneren mochte ich Bassam, was ich ihn allerdings selten zeigte. Die Sache mit dem Schahspiel hatte ich schon längst vergessen. Wenn meine Eltern nicht im Haus waren, behandelte ich ihn sogar recht freundschaftlich. Die restliche Zeit verhielt ich mich zu ihm wie mein Baba, kühl und distanziert. Trotzdem war ich für Bassam die größte Vertrauensperson. Ich war der Einzige, der ihn ansatzweise wie einen Menschen behandelte.
Ich erinnere mich, als wir einmal auf dem warmen Felsstein vor unserer Lehmhütte saßen und uns miteinander unterhielten.
„Wie ist es in der Schule?“, fragte er mich.
„Langweilig“, antwortete ich, während ich mit einem Stock Bilder in den Sand ritzte.
„Ich würde auch gern zur Schule gehen.“
„So toll ist es nicht. Die meiste Zeit sitzt man rum und schreibt Dinge auf.“
„Was für Dinge?“ Bassam hatte sich zu mir gewandt und blickte mich voller Neugier an.
Irgendwie war es mir unangenehm, wenn er mich auf diese Weise ansah.
„Stell nicht so dumme Fragen. Dinge halt! Wenn wir Mathematikunterricht haben, Zahlen. Wenn wir Farsi lernen, Wörter.“
„Ich würde gerne mal mitkommen und auch etwas lernen.“
„Das würde Siamak nicht erlauben. Außerdem würdest du die Hälfte sowieso nicht verstehen“, meinte ich herablassend.
In der Ferne konnte ich meinen Baba sehen, der von der Arbeit zurückkam.
„Baba!“, rief ich, während ich ihm entgegen lief.
Bassams Gesicht hingegen verfinsterte sich.
„Wo ist deine Mutter?“, fragte mich Siamak. Die Feldarbeit hatte ihn kräftig gemacht. An meinem Körper spürte ich die Wärme seiner muskulösen Arme, während er mich trug.
„Im Dorf, was zu essen kaufen.“
Wortlos lief er an Bassam vorbei und ließ mich im Haus wieder runter. Die meiste Zeit ignorierte er Bassam. Nur wenn er sich ärgerte, zog er den Jungen zu sich. Allerdings schimpfte oder brüllte er dann sogar laut. Heute danke ich Allah dafür, dass es auch Tage gab, an denen alles harmonisch ablief und Bassam seine wohlverdiente Ruhe vor uns hatte.
Nur einen Tag nachdem Bassam und ich das Gespräch über die Schule hatten, ereignete sich ein Vorfall, der mich heute noch tief erschüttert:
Es war früh am Morgen. Ich betrat mit ein paar anderen Schülern unser Klassenzimmer, das nichts anderes war als eine schlecht zusammengezimmerte Holzbaracke. Sie stand mitten im Dorfzentrum. An besonders heißen Tagen lief uns der Schweiß die Waden runter und die stickige Luft war kaum auszuhalten. Fenster gab es nur zwei, die allerdings immer verschlossen waren. Keine Geräusche von draußen sollten uns vom Lernstoff ablenken.
Unser Lehrer war ein langgewachsener, dürrer Mann mit Schnurrbart namens Nersy, der sogar in der Hauptstadt studiert, aber seine Wurzeln in unserem Dorf hatte. Er war sehr engagiert, da es ihm wichtig war, dass auch Kinder aus seiner Heimat es später zu etwas brachten. Obwohl sein Gehalt, trotz seines Bildungsgrads, sehr niedrig ausfiel, merkte man ihm an, dass er seine Arbeit mit uns liebte. Er war der typische Idealist.
Im Laufe des Unterrichts bemerkte ich, dass jemand am Fenster stand. Wenn ich hinblickte, duckte sich die Person schnell. Überrascht stellte ich fest, dass es Bassam war, der von den anderen unbemerkt seine Nase gegen die Scheibe drückte, während er mit großen Augen die Kreidestriche, die Nersy an die Tafel malte, verfolgte. In der Schulpause ging ich hinaus.
„Was machst du hier?“, fragte ich streng.
„Ich will was lernen“, antwortete mir Bassam und blickte verlegen zu Boden.
„Weiß Elham, dass du hier bist?“
Das Kopfschütteln genügte, um zu wissen, dass Bassam großen Ärger zu erwarten hatte. Daher scheute ich mich davor, ihn Heim zu schicken. So erlaubte ich ihm, den Rest des Tages mit mir in der Schule zu verbringen.
In der Pause stellte ich ihm die anderen Schüler vor, die Bassam neugierig musterten. Besonders Jamshed, der körperlich Größte in unserer Klasse, schenkte ihm seine volle Aufmerksamkeit, zum Leidwesen von Bassam.
„Was sind das denn für schmutzige Lumpen?!“, meinte Jamshed, während er das grau gestreifte Gewand Bassams so hoch anhob, dass der sich schämte.
„Und der Junge stinkt auch noch, wie der Teufel“, fügte er seine Nase rümpfend hinzu.
Die anderen Schüler taten es ihm gleich, obwohl ich den Geruch nicht besonders schlimm fand. Bassam blickte die ganze Zeit über verlegen zu Boden, während er von meinen anderen Mitschülern umzingelt wurde. Der Kreis löste sich erst, als sich Nersy näherte.
„Und wer ist dieser junge Mann?“, fragte mein Lehrer im freundlichem Ton. Lächelnd kniete er sich zu Bassam runter und hob dessen Kinn, um sein Gesicht besser sehen zu können.
„Das ist mein Cousin, Bassam, aus Teheran. Er besucht uns über die Ferien“, log ich schnell.
„Dann muss wohl das Waschen in Teheran zur Sünde erklärt worden sein“, meinte Jamshed im Hintergrund, woraufhin alle anderen in lautes Gelächter fielen.
„Er ist sehr schüchtern und sagt nicht viel“, erklärte ich Bassams Stillschweigen.
„Auch das Reden scheint dort eine Sünde zu sein“, scherzte Jamshed erneut. Alle lachten.
„Jamshed, ich will mit dir sprechen“, sagte Nersy im strengem Ton und mit bösem Blick, während er ihn am Arm packte und ins Klassenzimmer zerrte.
Mein Lehrer hatte sich vermutlich mit dieser einfachen Antwort zufrieden gegeben. Denn er stellte keine Fragen mehr über Bassam. Nun waren wir es, die unsere Gesichter gegen die Scheiben drückten. Im Klassenzimmer stand Nersy vor Jamshed, der trotz seiner Größe um Längen kleiner war als unser Lehrer. Mit dem Zeigefinger deutete Nersy auf ihn, während er lautstark schimpfte. Irgendwann bemerkte uns Jamshed und schaute zornig zu uns rüber, woraufhin wir uns schnell wieder vom Fenster entfernten.
Gemeinsam gingen Bassam und ich nach der Schule über den staubigen Pfad nach Hause. Hinter uns bemerkten wir plötzlich Schritte. Jamshed war uns mit drei anderen Schülern gefolgt. Als wir uns umdrehten, blieb die ganze Gruppe stehen.
„Warum lauft ihr uns nach?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.
„Wegen deinem Stinktier von Cousin habe ich heute Ärger bekommen“, sagte Jamshed. Dabei ließ sein wütender Blick Bassam keine Sekunde aus den Augen.
„Du bist selbst schuld. Du hast dich über ihn lustig gemacht.“ Schnell trat ich einen Schritt vor. Bassam hingegen versteckte sich hinter mir. Mein Herz klopfte, da Jamshed fast zwei Köpfe größer als ich war und auch noch Verstärkung hatte. Trotzdem wollte ich verhindern, dass er Bassam etwas zufügte.
„Halt dich da raus, Hussein“, drohte Jamshed. „Oder du bekommst auch was ab.“
Mit großen Schritten näherte er sich, aber trotz meiner Furcht vor ihm, wich ich nicht von der Stelle. Ich blickte zu Jamshed hoch und sah nur noch von unten sein spitzes Kinn. Mein ganzer Körper war angespannt und beide Hände waren zu Fäusten geballt.