„Setz dich und erzähl mir alles“, meinte sie.
„Nia, ich weiß nicht, was ich dir da sagen soll.“ Ratlos strich Yassir ihr über die Schulter.
„Irgendetwas, was mir wieder Hoffnung schenkt.“
„Er hat mir bisher nicht verraten, wo Bassam ist, nicht mal andeutungsweise. Er hat mir nur erzählt, wie er unseren Sohn kennengelernt hat. Erst wenn ich seine Geschichte gehört habe, wird er es mir sagen.“
Yassir wollte aufstehen, doch sie ergriff seine Hand, die sich weich anfühlte.
„Dann werde ich morgen mitkommen. Ich werde mit ihm reden. Er wird eine trauernde Mutter besser verstehen, als dich.“
„Das geht nicht. Er hat es verboten“, log Yassir nervös. „Eine Bedingung von ihm war, dass nur ich anwesend bin, wenn er mit mir redet, sonst wird er schweigen.“
Abrupt ließ Nia seine Hand los und die Sanftmütigkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Sie verließ die Küche und ließ ihn allein.
Während der Nacht schlief Yassir kaum. Sein Kopf war voller Gedanken, vielmehr voller Sorgen. Nia, die mit dem Rücken zu ihm gewandt auf dem Bett lag, hatte nach dem Gespräch in der Küche, kaum mehr ein Wort mit ihm gewechselt. Keuchend stützte sich Yassir auf und saß eine Weile auf der Bettkante, von wo er das Foto auf dem kleinen Nachtschrank betrachtete. Es war nur einen Monat vor Bassams Entführung geschossen worden. Darauf war zu sehen, wie er Bassam, der in T-Shirt und einer bunten Sommerhose gekleidet war, auf dem Arm trug. Das Gesicht des Jungen strahlte vor Freude. Einige seiner schwarzen Locken hatten seine Stirn bedeckt. Nia stand daneben und drückte Bassam einen Kuss auf die Wange. Bei dem Anblick kamen Yassir fast die Tränen. Er versuchte seine Trauer zu unterdrücken, weil Nia ihn nicht so sehen sollte.
Er verließ den Raum, um sich in die Küche zu setzen. Das Foto nahm er mit. Auf dem Stuhl sitzend hielt er den Messingrahmen und die Sehnsucht nach seinem Sohn wuchs ins Unermessliche. Alles würde er die nächsten Tage für Bassam auf die Schulter nehmen. Dafür würde er jede qualvolle Wahrheit, die Hussein ihm geben würde, ertragen. Sein Entschluss stand fest: Diesmal wollte er dafür sorgen, dass sie wieder eine glückliche Familie sein würden.
Drei Stunden vor Mehrans Ankunft ging Yassir noch einmal aus dem Haus. Eine beruhigende Stille lag über der Stadt. Nur wenige Menschen kamen ihm in den engen Gassen entgegen. Aus der Ferne lockte ihn bereits die Stimme des Muezzins, die die morgendliche Ruhe wie ein Schwert durchschnitt.
Jungen mit bunten Rucksäcken auf dem Rücken kamen ihm laut schreiend entgegen gerannt. Sie waren vermutlich auf dem Weg zur Schule. In jedem ihrer kleinen Gesichter erkannte Yassir seinen Bassam. Es schmerzte ihn, sodass er sie nicht lange ansehen konnte.
Die Moschee war nicht mehr weit und die Stimme des Muezzins wurde lauter. Nicht besonders groß war das Gebäude, aber es wirkte trotzdem pompös. Braungelbe Backsteine waren mit unglaublicher Präzision aufeinandergesetzt worden. Lange, schmale Türme umzingelten die runde Kuppel, wie einen Gefangenen.
Yassir zog seine Schuhe aus, wusch sich die Füße und betrat das Gebäude. Die wenigen Menschen, die da waren, knieten auf bunt verzierten Teppichen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er das letzte Mal eine Moschee betreten hatte. Diesmal waren seine Sorgen so groß, dass er es für notwendig hielt, Allah um Unterstützung zu bitten. Er hoffte, durch den Glauben neue Kraft zu schöpfen, die ihm helfen sollte, die nächsten Tage zu überstehen. Obwohl die Moschee von außen eher klein wirkte, war sie innen erstaunlich geräumig. In einem schneeweißen Gewand gekleidet stand der Imam in der Mihrab und hatte eine ebenso weiße Kappe auf. Er blickte Richtung Mekka und hatte seinen Rücken den Betenden zugewandt, während er Verse aus dem Koran rezitierte, die von den glänzenden Kacheln der Mihrab zurückschallten und so den ganzen Gebetssaal erfüllten. Es kam Yassir vor, als spräche Allah direkt zu ihm.
Die Besucher der Moschee verbeugten sich gleichzeitig, wie Weizenähren, die vom Wind erfasst wurden. Ehrfürchtig kniete sich Yassir hin und drückte seine Stirn auf den harten Boden. Die Stimme des Imams nahm er kaum noch wahr. Denn er hatte sein eigenes Gebet vorbereitet:
Gütiger, allmächtiger Allah, ich flehe dich an. Ich brauche die nächsten Tage all meine Kräfte. Ich habe große Angst vor der Wahrheit, aber ich muss sie wissen. Lass mich die Stimme Husseins, die qualvolle Worte verkünden wird, ertragen. Schenk mir die Ruhe und Geduld mit ihm in Frieden auseinanderzugehen, damit ich mich nicht an ihm versündige. Bändige meinen Zorn auf diesen Jungen, denn ich weiß, dass er für all das nicht verantwortlich ist. Egal, was er mir erzählen wird, lass mich keine unüberlegten Dinge sagen oder tun. Gib mir nur einen Hoffnungsschimmer, ein kleines Zeichen, das mir zeigt, dass meine Mühen nicht umsonst sein werden.
Bei den letzten Worten presste Yassir seine Stirn fester auf den kalten Boden. So vertieft war er in seinem stillen Gebet. Als er aufblickte, sahen ihn einige Besucher der Moschee verwundert an. Es kümmerte ihn nicht, was die anderen dachten und was der Imam rezitierte. Denn diesmal wollte er sich direkt an Gott wenden. Nun verstummte der Imam und drehte sich um. Sein schwarzer, drahtiger Bart hing steif in der Luft, während sein Blick despotisch durch den ganzen Gebetsraum wanderte. Einige Besucher standen auf, um ihm die Hand zu geben. Yassir hingegen verließ die Moschee wieder.
3
Omid schmiss einige Wasserflaschen und in Folie verpacktes Essen in die Dunkelheit.
„Das müsste reichen“, murmelte er und ging zurück zum Wagen.
Hinter sich konnte Yassir den lauten Motor und das Gestein, das unter den Reifen knirschte, vernehmen, als der Polizist davon fuhr.
„Hussein!“, rief Yassir runter.
„Ich möchte eines klarstellen. Sie müssen wissen, dass ich all das nicht tue, um Sie zu quälen, sondern damit Sie meine Lage verstehen“, fing Djamal plötzlich an zu reden, als musste er so schnell wie möglich diese Worte loswerden. Aus seiner Stimme konnte Yassir Betrübtheit heraushören.
„Geht es dir gut?“, fragte Yassir sich über die Gitterstäbe beugend. Die Schwärze erdrückte ihn fast.
„Die Hitze des Tages, die Kälte der Nacht und vor allen Dingen die ständige Dunkelheit machen mir zu schaffen.“
„Wieso tust du das alles? Wieso sitzt du freiwillig in diesem Loch und nicht in einer normalen Gefängniszelle?“ Eine Frage, die sich Yassir schon seit dem ersten Tag gestellt hatte, daher wunderte er sich, weswegen er sich jetzt erst danach erkundigte.
„Um zu leiden“, anwortete Hussein hustend.
„Um zu leiden?“
„Ich will leiden“, sagte er etwas leiser. „Leiden, wie ihr Sohn gelitten hat. Ich sehe es als gerechte Strafe an. Ich will nachvollziehen können, wie es Bassam all die Jahre ergangen war.“
„Du hast doch nichts verbrochen.“
„Wieso sollte mich die Polizei festnehmen, wenn ich nichts Unrechtes getan habe?“
Yassir schämte sich für diese törichten Worte. Denn der Gefangene hatte recht.
„Darf ich fragen, was du getan hast?“
„Das werde ich Ihnen später sagen“, antwortete Hussein. „Also ich möchte jetzt gerne meine Erzählung fortsetzen.“
***
All die Jahre lebte ich in dem Glauben, das