Erben der Macht. Christine Stark. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Stark
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742777645
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Aber die Hände, mit denen er ihren Kopf hielt, wenn sie die Schmerztabletten schluckte und mit denen er sie wieder zurück auf ihr Kissen bettete, waren alles andere als brutal. Er achtete sorgfältig darauf, alles genauso auszuführen, wie ihn der Doc angewiesen hatte. Er päppelte sie auf, keine Frage. Aber wofür? War sie seine Geisel? Wusste er, wer sie wirklich war? Diese Frage ließ Maya keine Ruhe.

      Sie hatte einen Fluchtversuch unternommen, kaum dass die Beruhigungsmittel des Docs nachgelassen hatten. Einen ziemlich dämlichen Versuch. Zwar hatte sie ihre Schmerzen größtenteils verdrängen können und es auch fast aus dem Bett geschafft, war aber von einem schrecklichen Schwindelgefühl in die Knie gezwungen worden. Sie war kraftlos über die Bettkante zu Boden gerutscht. Direkt vor die Füße ihres schlafenden Bewachers, der in einem Sessel neben dem Bett Stellung bezogen hatte und der, wie sie feststellen musste, gar nicht mehr geschlafen hatte. Mit einem resignierten Seufzer hatte er sie vom Boden aufgehoben und sie zurück ins Bett gebracht. Maya hatte sich nicht wehren können. Auch wenn ihr der Mocovic so nah gewesen war, dass sie hatte schreien wollen.

      „Nein, ich muss…“ hatte sie stattdessen gestammelt und das „…hier raus!“ für sich behalten. Scar hatte sie eine Weile angeblickt.

      „Du musst… oh!“ Seine Augen hatten sich erschrocken geweitet.

      „Entschuldigung.“ Dann hatte er sie aufgerichtet und mehr oder weniger ins Badezimmer getragen. Das war zwar nicht genau das, was Maya gemusst hatte – aber sie war doch froh über die Erleichterung. Alles in allem: Die maximale Peinlichkeit.

      Das war jetzt zwei Tage her und obwohl sich Maya schon viel besser fühlte, war an Flucht nicht einmal zu denken. Sie war praktisch nie allein. Scar blieb die meiste Zeit in ihrer Nähe und in den seltenen Fällen, in denen er seine Wohnung verließ, wurde er abgelöst von diesem rotblonden, schlaksigen Typen, der sich ihr als Elias vorstellte, aber weiter wenig mit ihr sprach. Weder an dem einen, noch an dem anderen konnte sie vorbei. Außerdem war sie ja noch nicht einmal fähig, alleine aufs Klo zu gehen.

      Und noch ein Problem ergab sich aus ihrer Hilflosigkeit: Langeweile. Nachdem sie wieder und wieder daran gescheitert war Scars Verhalten irgendwie einzuordnen oder eine Flucht zu planen, blieb ihr nicht viel zu tun. Eigentlich gar nichts. Gleichzeitig fand sie es erstaunlich, wie schnell der menschliche Geist – in diesem Fall ihrer – sich mit Situationen abfand, die völlig wahnwitzig waren. Sie hatte sich an ihren wortkargen Bewacher gewöhnt, kannte seine wenigen Routinen und hatte zunehmend Probleme damit, ihn als abscheulichen Killer zu sehen. Waren das die Anfänge des Stockholm-Syndroms? Konnte das tatsächlich sein? Und nur, weil sie sich langweilte? Ihre Gehirnerschütterung machte es beinahe unmöglich, irgendetwas zu lesen oder anzusehen. Und ihr rechter Arm steckte fest in dem Verband des Docs. Nicht einmal zeichnen konnte sie also. Sie musste sich irgendeine Beschäftigung suchen, mit der sie diese Stockholm-Sache fernhalten konnte. Vielleicht sollte sie in ihrem Kopf alle Menschen auflisten, die sie kannte und deren Elend auf das Konto der Mocovics ging. Keine schlechte Idee.

      „Ich denke, du könntest langsam mal was anderes vertragen, als immer nur Brühe.“ Scar lehnte, wie so oft im Türrahmen und sah sie an. In einer Hand hielt er sein Mobiltelefon.

      „Wie wär’s mit Nudeln?“ Es war schon erniedrigend, wie sehr die Aussicht auf leckeres Essen ihre guten Vorsätze einfach so beiseite wischen konnte. Zu ihrer Bestürzung lächelte sie dankbar und zu allem Übel begann auch noch ihr Magen zu knurren.

      „Ich deute das als Ja. Elias kommt nachher vorbei. Ich sag ihm, dass er was mitbringen soll.“ Er wählte.

      „Eli? Wegen nachher. Bring noch ne Portion Nudeln mit. Nicht zuviel Sahnesoße, okay? Für mich das Übliche.“ Und nach einer Pause. „Nein, das geht schon klar. Mach dir mal keinen Kopf. Wir reden später.“ Er legte auf und sah sie an. Als er lächelte, bemerkte Maya, dass ein schmaler Ausläufer der Narbe auch über seine Lippen lief. Sein Mund verzog sich nicht symmetrisch und verlieh diesem Lächeln etwas Abgründiges. Maya zwang sich, den Blick von seinen Lippen zu lösen.

      „Warum tust du das?“, fragte sie endlich.

      Scar zuckte mit den Schultern.

      „Na ja, ich dachte, immer nur Brühe… und dein Magen hat gerade ziemlich laut geknurrt, also…“

      „Nein.“ Maya wedelte heftig mit ihrer linken Hand. „Ich meine: Wieso kümmerst du dich um mich?“

      „Du bist verletzt“, antwortete er nur.

      „Und wer hat mich verletzt?“ Keine Antwort. Scar blickte zu Boden.

      „Hast du mich gehört?“ Ihre Stimme klang hart.

      „Ja.“

      Seine Einsilbigkeit brachte sie aus der Fassung.

      „Kannst du verstehen, dass ich gerne wissen möchte, warum man mich erst niederschlägt und mich dann wieder gesund pflegt?“

      „Ja.“

      „Ja, und weiter?“

      „Ja, das kann ich verstehen.“

      Maya schloss entnervt die Augen.

      „Du weißt, was ich wissen will.“ Sie versuchte einen flehenden Tonfall. „Bitte.“

      „Maya, ich bin nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich bin nicht so wie mein Bruder. Wenn du mich erkennen würdest…“ Er sprach so leise, dass Maya Mühe hatte, ihn zu verstehen.

      „Du willst sagen: Er ist der Böse und du bist der Gute?“ Zu spät bemerkte sie, dass ihr beißender Spott ihn verletzt haben musste. Es war, als würde eine harte Schale um ihn herum wachsen.

      „Nein“, sagte er schlicht. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.

      Seufzend sank Maya tief in ihr Kissen. Sie schämte sich, ihn so angeblafft zu haben. Moment, sie schämte sich? Das konnte doch nicht wahr sein! Sie lag hier, völlig bewegungsunfähig und offensichtlich eine Gefangene. Das alles war nur seine Schuld! Er hatte allen Grund, sich zu schämen. Mit deutlich mehr Elan ging Maya ans Werk und besann sich auf die vielen Leben, die die Mocovics zerstört hatten. „Stockholm, ick hör dir trapsen…“, seufzte sie. Dann dachte sie an ihre Familie, ihre Schwester, Lisa, Rocco…

      Heiße Panik fuhr ihr durch die Glieder. Verdammt! Rocco! Wenn er ins Café zurückgekommen war… wenn er entdeckt worden war… wenn irgendwer die Wohnung durchsucht hatte… alle seine Sachen waren in ihrem Atelier. Oh nein! Oh nein! Sie bekam kaum Luft. Rasselnde Schluchzer drangen aus ihrem Mund. Er war in Gefahr, sie musste zu ihm. Jetzt gleich! Ungeduldig rupfte sie an dem Laken, das sich um ihren Körper gewickelt hatte. Sie setzte sich auf, den Kopfschmerz und die Prellungen ignorierend. Sie musste Rocco finden.

      Noch ehe sie den Kampf mit dem Laken gewonnen hatte, war Scar bereits neben ihrem Bett aufgetaucht. Besorgt blickte er auf sie herab, zögerte kurz und griff dann entschlossen nach ihrem freien Handgelenk.

      „Maya! Maya! Was ist los? Hast du Schmerzen?”

      Sie versuchte, sich frei zu kämpfen.

      „Lass mich los!“ Tränen rannen ihr über die Wangen.

      „Bitte, bitte, lass mich los.“ Gleich würde sie wieder einen hysterischen Anfall bekommen. Sie spürte, wie sie die Kontrolle verlor. Scar versuchte sie zurück auf das Bett zu drängen.

      „Beruhige dich. Bitte beruhige dich… ich kann nicht…“

      Maya zappelte immer wilder.

      „Ich muss hier weg! Bitte lass mich!“ Mit aller Kraft versuchte sie, sich seinem Griff zu entwinden. Scar murmelte einen heftigen Fluch. Dann mit einer plötzlichen, fließenden Bewegung saß er auf ihr und drückte sie nach unten. Erschrocken zuckte Maya zurück. Adrenalin pumpte durch ihren Körper, sie bäumte sich auf, war jedoch völlig chancenlos. Er war einfach zu nah. Sie spannte jeden Muskel ihres Körpers an und starrte trotzig nach oben.

      „Beruhige dich“, sagte er wieder und in seinen Augen spiegelte sich…