„Hallo Lea. Ich heiße John.“ Er kniete sich wieder vor das Bett. Misstrauische Blicke aus hellblauen Augen, waren ihm die ganze Zeit gefolgt.
„Komm Lea, ich bringe dich zu deiner Mami.“ John streckte eine Hand aus. Lea schüttelte den blonden Lockenkopf.
„Er hat Mami weggebracht und sie kam nicht zurück. Bestimmt hat er ihr etwas getan.“ Die Worte klangen beklemmend aus dem Kindermund.
„Nein, er hat deiner Mami nichts getan. Er hatte einen Unfall und ohne ihn hat deine Mami nicht mehr hierher zurückgefunden. Sie wartet jetzt auf dich. Ich soll dich zu ihr bringen.“
„Du bringst mich zu meiner Mami?“ Ein leichtes Lächeln erhellte das ernste Gesicht. John nickte und hob sie hoch. Viel Ahnung hatte er nicht von Kindern, doch er ahnte, dass sie zu wenig wog.
Mit dem verängstigten Kind auf dem Arm stieg er langsam die Treppe hinunter. Er gab Bruno ein Zeichen, dass er ihn hinausbegleiten sollte.
„Du hast doch bestimmt einen Kindersitz im Auto, Bär?“ Bruno nickte und entriegelte seinen Wagen. Nur Augenblicke später half er John die Kleine anzuschnallen.
„Und, noch was gefunden?“ John hatte die Stimme gesenkt, sodass Lea ihn nicht hören konnte. Bruno nickte müde.
„Einiges. Alles verdammt ekelhaftes Zeug. Sei froh, dass du nur die netten Aufgaben bekommst.“
„Ich hab mir halt den richtigen Beruf ausgesucht“, witzelte John trotz der ernsten Situation.
„Denk daran, eine Psychologin zurate zu ziehen und das Jugendamt muss angerufen werden.“
„Mach ich. Im Übrigen dachte ich an Nina.“
„Mach das! Meine Frau freut sich bestimmt, von dir zu hören. Und dann muss man für die beiden auch noch einen Platz im betreuten Wohnen finden, wenn man Selina die Kleine überhaupt lässt.“
Bei Brunos Worten wurde John blass. Daran hatte er nicht gedacht. Es war schon vorgekommen, dass man Missbrauchsopfern daraus resultierte Kinder weggenommen hatte, aus Angst, dass sie sich nach der Befreiung nicht ausreichend kümmerten, weil die Stresssituation zu groß war.
„Ich werde mich auch weiterhin um die beiden kümmern.“
„Vatergefühle?“
„Selina könnte meine Tochter sein, wenn ich die Richtige damals gefunden hätte. Dann wäre die Kleine hier meine Enkelin.“
„Mach was du meinst. Alles, was dich aus deiner Einsamkeit reißt, ist gut, alter Freund.“
„Ich komme demnächst mal vorbei. Und halte mich auf dem Laufenden, was ihr findet.“ Bruno nickte noch einmal und sah seinem Freund zu, wie er den Wagen wendete und in Richtung des Krankenhauses fuhr, bevor er das Haus wieder betrat. An Tagen wie heute wünschte er sich auch einen anderen Beruf.
Lea sah interessiert aus dem Fenster.
„Warst du schon einmal draußen, Lea?“
„Nein! Aber manchmal hat der böse Mann die Vorhänge aufgemacht und ich konnte aus einem kleinen Schlitz in den Brettern das Haus nebenan sehen.“
„Hat außer dem Mann, der Frau, deiner Mami und dir noch jemand in dem Haus gewohnt?“
„Nein, aber manchmal bekam der Mann Besuch. Die waren dann richtig laut und ich sollte ganz still unter dem Bett liegen. Meine Mami musste dann aber immer raus aus dem Raum. Wenn sie zurückkam, hat sie sich im Bad eingeschlossen und geweint. Ich hab es deutlich hören können.“
„Hat der Mann dir auch weh getan, oder nur deiner Mami?“ John widerstrebte es, diese Frage zu stellen, doch Lea war zugänglicher als ihre Mutter und er musste wissen, was in dem Haus geschehen war.
„Nein. Aber ich hatte immer Angst, wenn Mami nicht da war. Letzte Nacht besonders. Noch nie war meine Mami nicht bei mir, wenn ich schlafen sollte.“ Nach diesen Worten schwor John sich, dass er alles tun würde, damit die beiden nicht getrennt wurden. Er wusste nur noch nicht, wie er das schaffen sollte.
Die vielen Menschen auf dem Krankenhausgang erschreckten das Kind. John hatte sie auf dem Arm und hielt sie an sich gedrückt. Beruhigend streichelte er ihr über das Haar. Sacht klopfte er an Selinas Tür. Sie saß auf dem Bett, rotgeränderte Augen sprachen von den Tränen in der Nacht. Als sie ihre Tochter auf dem Arm des Mannes, der so freundlich zu ihr war, erkannte, lächelte sie ungläubig. John setzte Lea auf dem Bett ab und verließ das Krankenzimmer wieder. Er wollte das Wiedersehen der beiden nicht stören und daher die Zeit nutzen, mit einer Ärztin zu sprechen. Er hatte Glück, es war die gleiche Ärztin, mit der er bereits am vergangenen Tag gesprochen hatte.
„Es ist gut, dass Sie das Kind gefunden haben. Das war Selinas größte Sorge.“
„Ich möchte erfahren, ob sie wirklich unverletzt ist. Ich traue dem Mann alles zu, nachdem ich in seinem Haus war.
„Ich werde sie bald untersuchen. Soll ich einen Psychologen hier aus dem Haus hinzuziehen oder wollen Sie sich mit einem in Verbindung setzen?“
„Das mache ich. Ich habe die Richtige für Selina bereits ausgesucht.“
„Gut! Werden Sie das Jugendamt sofort informieren?“
„Das muss ich wohl. Könnten Selina und Lea aber hier bleiben, bis sich eine Lösung hat finden lassen?“ Die Ärztin nickte.
„Sie wollen nicht, dass die beiden in verschiedene Einrichtungen kommen?“
„Das wäre für keine gut.“
„In einem Frauenhaus, oder einer Wohngruppe wäre es meiner Meinung nach zu unruhig. Selina braucht jetzt als dringendstes Stabilität und Menschen, denen sie vertrauen kann,“ bestätigte die Ärztin.
„Danke Frau Doktor, Sie haben mich auf eine Idee gebracht.“
„Sie wollen die beiden aufnehmen?“
„Merkt man mir das an?“
„Schon! Sie sind nicht mehr bei der Polizei, dennoch sind Sie es, der sich um Selina kümmert. Hat man inzwischen ihre Eltern gefunden?“ John schüttelte den Kopf.
„Sie will über ihre Familie nicht sprechen.“
„Ich würde gerne erfahren, wie es weitergeht.“
„Das wird sich einrichten lassen. Oh, und nachdem die Polizei das Haus des Mannes, der Selina so lange eingesperrt hatte, durchsuchte, könnte es sein, dass die Presse auf den Fall aufmerksam wird.“
„Schon verstanden, Selina wird von allem abgeschirmt, dass sie aufregen könnte.“
„Danke!“ John drückte der Frau noch einmal die Hand und ging dann zu Selina zurück. Lea war im Arm ihrer Mutter eingeschlafen.
„Selina, ich muss mit dir sprechen.“ John hatte seine Stimme gedämpft, um Lea nicht zu wecken.
„Worum geht es?“ Ängstlich sah das Mädchen zu ihm auf und wirkte so jung und verletzlich.
„Lange brauchst du nicht mehr im Krankenhaus zu bleiben, aber du willst ja nicht sagen, wo du herkommst. Also muss ein Ort, wo du wohnen kannst, gefunden werden.“
„Was ist mit Lea?“ Keuchte sie und zog das Kind enger an sich.
„Ich will ehrlich