„War das heute dein erster Ausflug, seit er dich in seiner Gewalt hatte, oder ward ihr schon mehrfach unterwegs?“ Sie nickte nur.
„Das erste Mal.“
„Und wie seid ihr in die Stadt gekommen?“
„Mit seinem Auto.“
„Weißt du, wo er geparkt hatte?“
„Draußen, vor einem Park. Er musste ein Ticket ziehen.“
„Das machst du sehr gut, Selina. Und kannst du mir auch sagen, wie lange ihr gefahren seid?“
„Nein, ich habe keine Uhr und in seinem Wagen habe ich nicht darauf geachtet. Ich hatte einfach Angst.“
„Okay, das ist nicht schlimm. Kannst du mir sagen, wie das Haus aussah, in dem er dich festgehalten hat?“
„Es war alt und die Farbe bröckelte ab. Aber das Haus daneben war schön. Richtig bunt. Ich konnte es von meinem Fenster aus sehen, wenn ich mal die Vorhänge aufmachen durfte, um zu lüften. Ich wurde lange im Keller eingesperrt, aber irgendwann durften wir dann im Estrich hausen.“
„Wie bunt? Ganz bunt oder nur eine Farbe.“
„Nein, ganz bunt. Der Besitzer hat Bilder aufgemalt. Blumen und einen Steinbock.“
„So finden wir das Haus und auch deine Tochter.“
„Und Sie holen Lea da raus?“ John tat etwas, was er als Polizist nie getan hätte. Er gab ein Versprechen, von dem er nicht wusste, ob er es halten konnte. Doch der hoffnungsvolle Blick, mit dem Selina zu ihm aufsah, hatte ihn dazu veranlasst.
Bald danach hatte John Etter sich von Selina verabschiedet. Unten auf dem Parkplatz rief er zuerst Bruno Bär an, um ihm von den Neuigkeiten zu berichten. Dieser versprach sofort nach dem Wagen, den Selina noch als blau und größer beschrieben hatte, fahnden zu lassen. Und auch alle Streifen wurden angehalten, nach einem Haus mit aufgemaltem Steinbock Ausschau zu halten. Während er eine Zigarette rauchte, rief John Susanne an.
„Ich hab noch ein paar Infos für dich, die deine Suche eingrenzen können“, sagte er statt einer Begrüßung. Später würde sie ihm diese Unfreundlichkeit vorhalten, doch jetzt wollte er keine Zeit verschwenden, sondern Selinas Eltern finden. Susanne, die Perle des Büros, war es sich gewohnt, aber ab und zu musste sie ihm den Freundlichkeitstarif durchgeben.
„Selina ist bereits zwanzig und seit mindestens sechs Jahren verschwunden, eher mehr. Die genaue Zeit wollte sie mir genauso wenig verraten, wie ihren Nachnamen. Obwohl sie ihn bestimmt noch kennt. Zu sehr will ich sie aber auch nicht bedrängen, um ihr Vertrauen, dass sie langsam aufzubauen scheint, nicht sofort wieder zu verlieren.“
Susanne versprach ihm, weiter zu suchen. John legte auf und fuhr wieder nach Hause. Zurück in die Leere und zu dem langsam verschalenden Bier auf dem Couchtisch. Der atmete die letzten Gerüche von Alina ein, die noch im Haus schwebten. Er vermisste sie, ihre Nähe, ihr in Wohlfühlenlassen.
Kapitel 5
Mai 2006. Seit anderthalb Jahren war Selina schon in der Gewalt des Mannes. Ein Fernseher war ihre einzige Gesellschaft, wenn sie von seinen täglichen Besuchen in ihrem Zimmer absah. Ja, er hatte ihr sogar ein Zimmer in seinem Haus eingerichtet. Eigentlich war es hübsch. Doch jedes bisschen musste sie sich verdienen, wie er es nannte. Für jedes Buch und jede CD, verlangte er nach ihrer Nähe. Und dieses Verlangen tat ihr noch immer weh. Und noch mehr, es widerte sie an. Doch er schien nicht genug davon bekommen zu können. Nahezu jeden Tag kam er zu ihr hoch, nur selten hatte sie Ruhe vor seinen Händen. Und selbst, wenn er nicht zu ihr gekommen war, weinte sie sich in den Schlaf und Nacht für Nacht meinte sie, sein Keuchen an ihrem Ohr zu hören.
Sie weinte nicht mehr, wenn er bei ihr war. Egal, wie schmerzhaft oder wie sehr es sie ekelte. Das hatte er ihr rasch und äußerst schmerzhaft abgewöhnt. Auch nach ihren Eltern fragte sie nicht mehr. Sie war durch ihn zur Überzeugung gelangt, dass diese sie wirklich an ihn verkauft haben mussten, sonst hätten sie sie doch schon längst gefunden. Bei solchen Gedanken kamen ihr die Tränen, die sie jedoch tapfer herunterzuschlucken versuchte. Dem Mann bloß keine Schwäche zeigen, war zur Devise der noch nicht einmal zwölf Jahre alten Selina geworden. Und obwohl sie ihn hasste, so sehr wie ihre zerbrochene, ehemals kindliche Seele überhaupt hassen konnte, wünschte sie ihn manchmal zu sich. Einfach, um nicht immer nur alleine im Raum zu sein. Der dunkle Raum, in dem sie noch nicht einmal die Vorhänge aufziehen durfte, um wenigstens einen Blick nach draußen zu erhaschen. Er hatte das einzige Fenster zusätzlich mit Brettern zugenagelt. Selina wurde von Tag zu Tag blasser. Es war, als wäre das fröhliche Mädchen, das sich an diesem kalten Novembermorgen zur Schule aufgemacht hatte, nicht mehr da.
Kapitel 6
Juni 2013. John Etter hatte in der Nacht so unruhig geschlafen, wie in den letzten drei Jahren nicht mehr. Er hörte in Gedanken wieder Brunos Stimme, die ihm riet, nicht immer alles so nahe an sich heranzulassen, wie er es bei schweren Fällen oft getan hatte. Wobei Bär genau der Richtige war, um solche Ratschläge zu geben. Schließlich nahm er die Fälle auch mit nach Hause. Mehr als einmal hatte sich Nina, Brunos zweite Frau darüber beschwert. Und eine Ehe war an dem Arbeitseifer, den Bruno an den Tag legte, auch bereits zerbrochen. Den Kaffee trank John Etter im Stehen, was er sonst nicht mehr tat. Er überlegte noch, ob er kurz im Büro vorbeischauen sollte, bevor er zu Selina fuhr, als sein Handy klingelte. Es war Bruno, der ihm mit heiserer Stimme eine Adresse nannte. John kippte die halb volle Tasse in den Ausguss und schnappte sich beim Rausrennen seine Lederjacke. Alles in ihm war angespannt, als er seinen Wagen startete.
Vor dem Haus hatte sich bereits ein Aufgebot an Zivilbeamten versammelt. John Etter kannte die meisten noch.
„Durch den Wagen haben wir ihn gefunden. Im Handschuhfach hatte er seinen Ausweis. Alberto Pazzotti.“ John sah sich um und sein Blick fiel auf das Nachbarhaus. Von hier aus konnte man keinen Steinbock erkennen, doch er war sich sicher, dass dieser vom Garten aus gut zu sehen war.
„Bereit?“ Bruno legte ihm eine Hand auf die Schulter. John nickte, obwohl er es nicht war. Seine Angst, dass er sein Versprechen nicht würde halten können, wuchs. Doch das musste er beiseiteschieben, denn einer der Beamten klingelte bereits. Die schrille Glocke war auch hier draußen zu hören. Die Stille im Inneren wurde von schlurfenden Schritten unterbrochen. Eine ältere Frau musterte sie misstrauisch.
„Polizei, ist Herr Pazzotti zu Hause?“ Andrea Hutmacher, eine zierliche Beamtin hielt der Frau ihren Dienstausweis vor die Nase.
„Mein Bruder ist nicht da.“ Ihre Stimme war unangenehm, wobei John nicht einmal hätte sagen können, was ihm missfiel.
„Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss. Bitte sehr. Lassen Sie uns also bitte durch.“ Die Frau schnappte nach Luft, gab aber die Tür frei.
John wartete nicht ab, wie Bruno die anderen Beamten einteilte, sondern rannte die Treppe hinauf, schließlich hatte Selina ihm gesagt, dass ihr Zimmer im Dachgeschoss war. Er zog seine Waffe. Das Herz raste in seiner Brust. Unter dem Dach gab es nur eine Tür. Er rüttelte daran, doch sie gab nicht nach. In dem Raum konnte er leises Weinen hören.
„Hallo Lea, bist du da drin?“ Seine Stimme bebte vor Nervosität. Ein Schluchzen war die Antwort. Er sah sich um, doch ein Schlüssel war nirgendwo zu sehen. John schob die Waffe zurück ins Holster. Sollte Lea nicht alleine in dem Raum sein, würde er auch ohne kämpfen können. Und er wollte sie auch nicht erschrecken. Es musste schon furchtbar für dieses kleine Mädchen gewesen sein, einen Tag und eine Nacht ohne die Mami zu sein.
„Lea, tu mir bitte einen Gefallen und stelle dich ganz weit weg von der Tür. Hier ist kein Schlüssel und ich muss sie so öffnen, sie aufdrücken.“ Wieder war da nur dieses Schluchzen. John atmete noch einmal tief durch,