„Sag mir Bescheid, wenn sich etwas ergibt, Bruno! Ich werde hier bleiben und warten, ob das Mädchen etwas sagen kann.“
„Oder sagen will. Es klang ja sehr mysteriös, was sie deiner Aussage nach von sich gegeben hat.“ Bruno nickte seinem besten Freund noch einmal zu, bevor er das Krankenzimmer wieder verließ. John Etter setzte sich auf den Stuhl, den er sich neben das Bett im Einzelzimmer gestellt hatte. Mysteriös hatte er die Worte des Mädchens nicht gefunden. Eher beklemmend, denn er ahnte schon, dass sich etwas hinter all dem verbarg. Er sah in das eingefallene Gesicht. Dunkle Schatten lagen unter den Augen und irgendwie wirkte die Haut seltsam, so als hätte sie nicht viel Kontakt mit Sonnenlicht.
Leise vibrierte sein Handy.
„Ja, Susanne?“ John flüsterte und stand auf.
„Ich bin noch im Krankenhaus und ich werde wohl auch hier bleiben, bis das Mädchen wieder bei Bewusstsein ist.“ Wieder lauschte er schweigend.
„Nein, ich weiß noch nicht, wer sie ist und ja, es interessiert mich. Du weißt ja, ich bin von Natur aus neugierig.“ Er lachte.
„Ja ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Und nein, Frau Walser werde ich nicht weiter beschatten. Die Frau hat definitiv keine Affäre. Sagst du es ihrem Mann und machst einen Schlussbericht mit Abschlussrechnung?“
Nachdem Susanne zugestimmt hatte, bedankte er sich und packte das Handy wieder in die Innentasche seiner Lederjacke. Nun betrat er den Raum wieder. Das junge Mädchen lag nun wach im Bett und starrte an die Decke.
„Wohin haben Sie mich gebracht? Und wo ist er?“
„Du bist im Krankenhaus. Und er lebt nicht mehr. Es tut mir leid!“
„Nein, das darf nicht sein“, schrie sie auf.
„Leider hat er den Unfall nicht überlebt. Willst du mir nicht erzählen, wer du bist?“
„Ich bin Niemand“, flüsterte sie und schloss die Augen.
„Kein Mensch ist Niemand. Man ist immer jemand. Ich bin John, John Etter. Verrate mir doch deinen Namen.“ Sanft und ruhig sprach er auf sie ein.
„Ich bin Niemand“, wiederholte sie jedoch nur.
„Gut! Verrätst du mir dann wenigstens, wer der Mann war, den du so dringend sprechen wolltest? Er hatte keinen Ausweis bei sich.“
„Er war jemand, doch wer genau, kann ich nicht beantworten!“
„Und warum nicht?“ Obwohl dieses Gespräch alles andere als ergiebig war, verlor John nicht die Geduld.
„Ich kann nicht oder darf nicht. Vielleicht will ich auch nicht. Suchen Sie sich doch einfach die Antwort aus, die Sie am ehesten hören wollen.“
„Ich würde am liebsten eine ehrliche Antwort hören. Deinen Namen, seinen Namen, seine Adresse und auch den Grund, was so wichtig gewesen wäre, dass du mit ihm sprechen wolltest. Vielleicht kann ich dir helfen.“
„Helfen kann man mir schon lange nicht mehr. Und ich wollte mit ihm sprechen, ich habe nur eine Antwort gebraucht, die ich jetzt nicht mehr bekomme. Seine Adresse, die kenne ich nicht, seinen Namen hat er mir nie verraten und meiner wurde mir vor Jahren genommen.“
John Etter ahnte Schlimmes, schließlich wurden oft junge Mädchen entführt. Manche tauchten wieder auf, lebend aber verstört, so wie dieses hier. Andere fand man tot und man ahnte nur, dass dieser eine Erlösung gewesen sein musste und wieder andere blieben verschwunden. Viele waren auch nur ein paar Tage weg und tauchten fröhlich wieder auf. Dieses Mädchen aber nicht. Sie schien schwere Zeiten hinter sich zu haben.
„Und wie wurdest du genannt, bevor man dir deinen Namen genommen hat?“
„Selina“, flüsterte sie beinahe tonlos.
„Gut Selina, kannst du mir die anderen Fragen vielleicht auch beantworten?“ Sie schüttelte den Kopf. Dann klopfte es und eine junge Krankenschwester betrat das Zimmer.
„So, Sie sind wach, dann kann ich Sie direkt mit zu einigen Untersuchungen nehmen.“
„Ich will nicht! Ich will gehen“, widersprach Selina.
„Tut mir leid, aber Sie können nicht gehen, bevor sie nicht gründlich untersucht wurden!“ Obwohl die Schwester klein und zierlich war, hatte sie eine höchst energische Stimme. Sie zog Selina vom Bett und platzierte sie in einen Rollstuhl. John erhob sich ebenfalls.
„Ich komme später noch einmal wieder. Bitte denk darüber nach, ob du meine Fragen beantworten kannst. Ich glaube, dass ich dir wirklich helfen kann.“ Mit diesen Worten legte er eine seiner Visitenkarten auf den Nachttisch.
„Sie können mir nicht helfen, so sehr ich es mir auch wünsche. Nur der Tote hätte es gekonnt.“ Tränen rannen über die Wangen und ließen die hellen Augen glitzern.
„Ich bin Privatdetektiv und arbeite eng mit der Polizei zusammen. Mir fällt bestimmt etwas ein, womit ich dir helfen kann!“
Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal sagte sie nichts mehr. John Etter beobachtete noch, wie der Rollstuhl den langen Gang hinunter geschoben wurde, dann verließ er das Krankenhaus.
Nachdem er in seinen Wagen gestiegen war, nahm er sein Handy. Die Nummer von Kommissar Bruno Bär stand an einer der ersten Stellen seiner Anrufliste.
„Hallo, ich wollte dir sagen, dass unsere Unbekannte wach ist. Sie heißt Selina und ich vermute, dass der Kerl, der überfahren wurde, sie längere Zeit gefangen gehalten hatte. Alles, was sie andeutet, spricht dafür.“ John hörte, wie Bruno tief durchatmete, bevor er antwortete.
„Wir kennen doch so was. Ein kleiner Spaziergang, nachdem sie jahrelang brav gehorcht hatte. Und ich glaube, dass er sie mit noch etwas in der Hand hat. Du kennst solche Fälle ebenso gut wie ich, Bär! Es wird dauern, bis sie mir oder einem von uns genug vertraut, um mir ihr Leid zu klagen.“ Während er Brunos Antwort lauschte, kramte er im Handschuhfach nach seinen Zigaretten.
„Natürlich werde ich mich weiter um diese Selina kümmern. Das ist auf jeden Fall spannender, als hübsche Empfangsdamen beim lesen zu beobachten, weil der Mann an einer latenten Paranoia leidet und meint, dass sein braves Frauchen ihn betrügt. Also, ich halte dich über Selina auf dem Laufenden und du sagst Bescheid, wenn sich bei dem Toten und dem Unfallfahrer etwas Neues ergibt. Ich nehme an, dass ihr gleich noch jemanden bei Selina vorbeischickt, falls sie euch mehr sagt, wäre ich froh, es zu erfahren.“
Nach einem kurzen Abschiedsgruß legte John auf und startete seinen Wagen. Er wollte nur noch nach Hause. Vielleicht ein Bier trinken und etwas entspannen. Wobei er wusste, dass er nicht würde entspannen können, sondern sich Worte für das nächste Gespräch mit Selina zurechtlegen würde. So war er immer schon gewesen und dieser grundlegende Aspekt seines Charakters, würde sich vermutlich auch nicht ändern.
Zu Hause wartete bereits seine Partnerin Alina auf ihn und bemerkte sofort die Anspannung in John. Sie hatte ebenfalls schlechte Nachrichten für ihn.
Ihr Bruder hatte in der Produktionsstätte in Hongkong ein wahres Tohuwabohu hinterlassen und sie müsste dies wieder in Ordnung bringen.
John kannte diese Geschichte nur zu gut und stellte sich auf einige Wochen ohne Besuche von Alina ein. Eine letzte Nacht blieb ihnen noch, bevor Alina ihn für mehrere Wochen verlassen musste.
Die Liebe war noch neu. Jahre hatte er niemanden mehr in sein Leben gelassen. Nicole war vor Jahren eine ernsthafte Beziehung, und nachdem diese Beziehung in die Brüche ging, gab es nur noch einen One-Night-Stand mit einer Kollegin – Andrea.
Die Sache mit seinen Eltern ließen den Partnerwunsch in den Hintergrund treten und nachdem sie gestorben waren, fand er keine Zeit dazu. Bis Alina anlässlich eines speziellen Falles in sein Leben trat.1
1 John Etter – Verschollen