„Es kann dauern, bis sie dir vertraut.“
„Ich habe Zeit. Selina und ihre Tochter werden bei mir einziehen. Ich hab zusammen mit Bruno und Nina die halbe Nacht Zimmer renoviert und Möbel aufgebaut. Und das Jugendamt lässt es momentan auch einmal zu.“
„Das freut mich. Auch für dich. Ein bisschen Leben im Haus wird dir guttun. Ich wollte dir ja schon vorschlagen, eine WG zu gründen, falls das mit Alina nicht ins Rollen kommt.“ Ein Leuchten lag in den blauen Augen, das ihre Worte als Scherz kennzeichneten.
„Das wäre was geworden. Du die Chaotin und ich der Ordnungsfanatiker.“ Ging John jedoch gut gelaunt auf ihren Scherz ein. Susanne lacht.
„Na dann husch, raus mit dir. Es zieht dich doch schon wieder in die Klinik.“
„Merkt man das?“
„Wie es andere sehen, kann ich dir nicht sagen, aber ich bemerke schon, dass du nicht bei der Sache bist. Sobald ich die Adresse hab, ruf ich dich an.“ John nickte.
„Danke und Susanne, mach danach den Laden dicht und genieße die Sonne. Du hast es dir verdient.“
„Na, das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen, Chef. Aber ich muss noch unsere freien Mitarbeiter koordinieren. Haben wieder einiges an Fremdgehprämien in Aussicht.“ Sie lachte und warf ihre langen roten Haare zurück. John hatte das Büro noch nicht verlassen, da klapperten auch schon wieder die Tasten.
Fast hätte er die Tüte mit den Sachen im Kofferraum vergessen, so schnell wollte er das Krankenhaus betreten. John musste über sich selber lachen. So kannte er sich nicht. Trotz allem stand er bald vor Selinas Krankenzimmer. Er klopfte an und betrat den Raum. Sie saß auf dem Bett. Ein Zweites war inzwischen auch in den Raum gerollt worden, auf dem Lea saß und in einem Bilderbuch blätterte.
„Guten Morgen ihr zwei!“
„Guten Morgen, John!“ Selina begrüßte ihn mit einem dünnen Lächeln, das endlich auch ihre grauen Augen erreichte, die John an einen stürmischen See erinnern würden, wenn mehr Leben in ihnen wäre.
„Ich habe euch ein paar Sachen mitgebracht. Er reichte Selina die Tüte. Den Teddy zog er zuvor heraus und ging zu Leas Bett.
„Und der hier ist für dich.“ Die Kleine streckte die Hand aus und fuhr dem Teddy durch das weiche Fell. Dann drückte sie ihn an sich.
„Das wäre doch nicht nötig“, meinte Selina.
„Ich mache es gerne. Außerdem sind die Anziehsachen notwendig.“ John lächelte sie an.
„Danke!“ Tränen schwammen in den Augen.
„Nicht weinen, ich wollte, dass ihr euch freut.“
„Freue mich!“, antwortete sich Lea.
„Das ist schön. Ich werde mich jetzt erkundigen, wann ihr entlassen werdet.“
„Wohin kommen wir denn?“ Selina sah ihn ängstlich an.
„Nachher kommt noch eine Frau vom Jugendamt, um mit dir zu sprechen. Aber ich kann dir schon verraten, dass ihr zu mir ziehen könnt.“ Selina nickte, doch der ängstliche Ausdruck in ihrem Blick schwand nicht. John setzte sich zu ihr auf die Bettkante und senkte seine Stimme so weit, dass Lea, die mit ihrem Teddy spielte, ihn nicht verstehen konnte.
„Es muss keine Dauerlösung sein, wenn du es nicht willst. Aber fürs Erste ist das wohl die beste Lösung.“
„Es ist nur …“ Selina zuckte mit den Schultern. John legte eine Hand auf ihren Arm.
„Ich verstehe und du kannst mir vertrauen.“ Bevor Selina antworten konnte, klopfte es sacht an die Tür. John stand von dem Bett auf und setzte sich auf den Stuhl, bevor Selina ihren Besuch hereinbat.
Es war Anita Weber. Sie nickte John zu, stellte sich Selina vor und sah sich in dem Krankenzimmer um.
„Wollte Frau Dr. Bär nicht kommen?“
„Sie war kurz da, aber nach einem Anruf musste sie gehen“, erklärte Selina.
„Auch gut! Ich müsste alleine mit Ihnen sprechen, Selina.“
„Wenn es für dich okay ist, gehe ich mit Lea runter in die Cafeteria.“
„Das wäre nett, John.“
„Sie können mir ja sagen, wann wir wieder nach oben gehen können“, wandte er sich an Anita Weber.
„Das werde ich machen, Herr Etter.“
„Na komm, Lea. Dann schauen wir mal, was es Leckeres gibt.“ John nahm das Kind auf den Arm und sah noch einmal zu Selina, die wieder so ängstlich wirkte.
„Was isst du denn gerne?“
„Ich muss essen, was es gibt. Es gibt nämlich nichts anderes, als das, was die böse Frau immer gekocht hat. Und sie wurde wütend, wenn ich gesagt hab, dass es nicht schmeckt.“
„Also, ab jetzt kannst du immer sagen, wenn es dir nicht schmeckt. Und ich muss doch wissen, was du magst, damit ich für deine Mami und dich kochen kann.“ John strich ihr über die blonden Locken. Lea lehnte sich vertrauensvoll an ihn. So betraten sie die Cafeteria. John setzte das Kind ab, damit er das Tablett nehmen konnte.
„Magst du Kakao?“
„Kenn ich nicht. Kenne nur Wasser, Kamillentee und Milch.“
„Kakao ist Milch mit Schokolade.“
„Was ist Schokolade?“
„Das kann man nicht erklären. Wie wäre es denn, wenn du probierst, ob du Kakao magst?“
„Wie schmeckt Kakao?“
„Lecker, süß.“
„Süß mag ich. Mag auch gerne Zucker im Tee.“
„Gut! Und was möchtest du essen?“ Er hob sie hoch, damit sie das Speisenangebot begutachten konnte.“ Lea legte den Kopf schief.
„Kenn ich alles nicht. Kenn nur Brot mit Käse und Spaghetti mit Soße. Schmeckt aber nicht immer gut.“ John schluckte einen Kloß, der sich in seinem Inneren bildete herunter. Es tat ihm beinahe körperlich weh, was diesem Mädchen und seiner Mutter angetan worden war. Dass beide körperlich einiges aufzuholen hatten, sah man ihnen an. Auch hier würde er sich Hilfe holen müssen.
„Soll ich dir dann was aussuchen, was ich gerne gegessen habe, als ich so alt war, wie du?“ Sie nickte. Er griff nach einem Teller, auf dem ein mit Salami und Salat belegtes Croissant lag. Dann bezahlte er und führte Lea zu einem Tisch. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Kakao.
„Lecker!“, nickte sie und trank gleich noch etwas. Dann biss sie in das Croissant. Auch das schmeckte ihr. John trank seinen Kaffee, während er sie lächelnd beobachtete.
„Möchtest du noch etwas?“, fragte er, nachdem sie aufgegessen hatte.
„Bin satt!“, befand Lea.
„Gut, jetzt müssen wir noch ein bisschen warten, bis wir wieder zu deiner Mami dürfen.“
„Was will die Frau von Mami?“
„Sie muss mit deiner Mami sprechen, damit ihr zu mir ziehen könnt.“
„Warum? Hat auch keiner gefragt, ob wir bei dem bösen Mann bleiben wollen.“
„Aber jetzt, wo ihr von dem bösen Mann weg seid, muss jemand wissen, wo ihr wohnt.“
„Warum?“
„Weil das so ist. Niemand wusste, dass ihr bei dem bösen Mann wart. Sonst wäre da auch jemand hingekommen und hätte nachgesehen, wie es euch geht.“ Es fiel John schwer, es kindgerecht zu erklären.
„Aber es kamen doch Leute zu Besuch.“
„Aber von denen hat keiner verraten, dass ihr da