John Etter
Privatdetektiv
Stummer Schrei
Kriminalroman
Text: © Silvio Z. via buchwerkzeug.ch
Umschlaggestaltung: © Silvio Z., www.silvioz.ch
Das Unerträgliche ist, dass die Kinder,
wenn sie sich aus dem Kokon
von Schweigen und vermeintlicher Schuld
heraus trauen, nicht auf offene Ohren stoßen.
Sie suchen nach Hilfe – aber sie bekommen sie nicht.
Wer Missbrauch überlebt hat,
gehört zu den mutigsten und stärksten
Menschen in unserer Gesellschaft, ausgestattet mit Sensibilität, Mitgefühl und einem hohen Maße an Kreativität.
Diese Menschen sind über sich selbst hinausgewachsen
und haben Unvorstellbares geleistet.
Nur viele von ihnen wissen das gar nicht!
Petra Pauls
Kapitel 1
November 2003. Selina betrat früh an diesem trüben Novembermorgen die Küche. In der Wohnung war es vollkommen still. Ihre Eltern waren arbeiten. Noch vor einem Jahr war die jetzt Zehnjährige nicht alleine gewesen, bevor sie zur Schule musste, nur manchmal, wenn sie mittags nach Hause kam. Doch seit sie in die Realschule gewechselt hatte, achteten die Erwachsenen nicht mehr ganz so stark darauf, dass immer einer bei ihr war. Seufzend nahm sie die bereits fertig geschmierten Schulbrote aus dem Kühlschrank. Wenigstens das tat ihre Mutter noch, wenn sie so früh aus dem Haus musste. Selina rümpfte die Nase, nachdem sie nachgesehen hatte, was es geben würde. Käsebrote. Die mochte sie am wenigsten. Doch sie hatte nicht die Zeit, sich etwas anderes zu machen, denn im Bad hatte sie heute wieder viel zu lange herumgebummelt. Daher warf sie die Brotdose achtlos in den Rucksack zu den Schulbüchern für den heutigen Tag. Im Stehen schlang sie eine Banane herunter, zu mehr fehlte ihr heute die Zeit.
Draußen war es noch beinahe dunkel, als das Kind die Haustür hinter sich schloss. Die Schultasche wirkte viel zu schwer für die schmächtige Gestalt des Mädchens. Gelbliche Lichter von Scheinwerfern folgten ihr. Zuerst bemerkte sie es nicht, obwohl hier um diese Uhrzeit fast nie Autos auf der Straße unterwegs waren. Erst als sie in den schmalen Waldweg einbog, den sie jeden Morgen ging, um zur Schule zu kommen, kam ihr der Gedanke, dass sie verfolgt wurde, denn der Wagen war noch immer dicht hinter ihr.
Sie ließ den Rucksack fallen und lief los, so schnell, wie ihre Beine sie tragen konnten. Doch es hatte keinen Sinn, vor jemandem zu fliehen, der in einem Auto sitzt.
Das musste Selina auch einsehen, Sie hatte keine Wahl, es gab auf dieser Strecke keinen Ausweg. Eine Wurzel brachte sie zum stolpern und so stürzte sie der Länge nach hin. Noch bevor sie sich hatte aufrappeln können, spürte sie, wie sie emporgezogen wurde.
Als sie schreien wollte, presste sich eine schwielige Hand auf ihre Lippen und raubte ihr nicht nur die Stimme, sondern auch die Luft zum Atmen. Unsanft wurde sie in den dunklen Kastenwagen geworfen.
Die massige Gestalt des Mannes kroch hinterher. Zitternd presste sich Selina gegen die kalte Wand. Er packte sie grob und sie fühlte einen feinen Stich am Handgelenk. Kurz danach wurde alles um sie herum dunkel.
Kapitel 2
Juni 2013. John Etter nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und blickte sich um. Seine Tarnung war perfekt, ein Mann, der seine Mittagspause nutzte, den Sonnenschein zu genießen, bevor die Büroarbeit wieder rief. Am Nebentisch in der Bistro-Bar saß die Frau, die er beschattete. Wie schon die ganze letzte Woche über, während er sie beobachtete, tat sie nichts Auffälliges. Sie hatte eine Tasse Tee vor sich stehen und las. Wenn er den Titel richtig deutete, einen Liebesroman. An Tagen wie heute verfluchte er seinen Entschluss, sich mit einer Detektei selbstständig zu machen. Noch vor wenigen Jahren war er Kriminalkommissar gewesen. Man hatte ihm eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt und eine schnelle Karriere versprochen. Doch nun saß er hier und verbrachte seine Tage damit, untreue Ehepartner zu verfolgen und das alles nur, weil er meinte, den Anblick der Opfer nicht länger ertragen zu können. Abgesehen von seinem ehemaligen Partner und besten Freund, Bruno Bär, wusste niemand, wie sensibel der große Mann mit dem breiten Kreuz sein konnte.
Natürlich gab es ab und zu auch einen Fall zu lösen, der ihn herausforderte und je länger er Detektiv war, umso mehr suchte er die Herausforderung in schwierigeren Fällen.
Er trank noch einen Schluck Kaffee und zog das Handy aus der Tasche. Zumindest diese Frau hatte er entlasten können. Aber das hatte er ihrem Mann schon vor einigen Tagen mitteilen wollen, doch dieser hielt an seiner Behauptung fest, dass seine Frau ihn betrog. Nun, wenn sie es tat, so spielte sich alles nur in ihrer Fantasie ab, denn sie verbrachte ihre Mittagspausen immer alleine mit einem Buch und auch abends ging sie nicht aus, es sei denn, ihr Mann begleitete sie. Nun winkte sie den Kellner mit einem freundlichen Lächeln zu sich und zahlte. Ohne auf ihr Wechselgeld zu warten, obwohl sie mit einem Schein bezahlt hatte, stand sie auf. Sie schob die Sonnenbrille, die ihre langen dunklen Locken aus dem fein geschnittenen Gesicht gehalten hatte, auf die Nase und bummelte zurück zu dem Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Dort arbeitete sie am Empfang einer großen Anwaltskanzlei. Nun machte sich auch John zu Fuß auf den Rückweg. Er wusste ja, wann sie Feierabend hatte und wenn sie nicht gerade mit einem der Anwälte eine Affäre hatte, der sie während der Arbeitszeit frönte, würde sich für sie keine Gelegenheit zum Fremdgehen ergeben. Er konnte durch die großen Fensterscheiben in ihr Büro sehen und ihr vermuteter Chef sass ein Büro daneben. Nie gab es auch nur einen kleinsten Hinweis auf eine mögliche Affäre.
Weit war er noch nicht gekommen, als er quietschende Bremsen und einen lauten Schrei vernahm. John Etter lief in die Richtung und kam bei der großen, vierspurigen Kreuzung an, an der es schon mehrfach zu Unfällen gekommen war. Ein Mann lag am Boden, mehrere Meter entfernt stand ein Auto. Der Fahrer lehnte zitternd und blass an der Tür und stammelte leise vor sich hin. Ein unscheinbares Mädchen kniete beim Verletzten. Ihre Hände waren voller Blut, das aus seiner Kopfwunde sickerte. Eine Menschentraube bildete sich um die Szenerie und es war kurze Zeit später auch bereits das Martinshorn des herannahenden Krankenwagens und die Sirenen der Polizei zu hören.
„Bitte sag mir, wo sie ist!“, hörte John das Mädchen wimmern. Er ging zu ihr und zog sie weg, um den Sanitätern und dem Notarzt Platz zu machen. Sie wehrte sich.
„Ich muss bei ihm bleiben!“
„Warte, lass die Ärzte ihm helfen. Später kannst du mit ihm sprechen.“ Instinktiv duzte John sie. Doch das junge Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich muss jetzt mit ihm reden. Es ist wichtig. Nichts Wichtigeres gibt es für mich!“ John sah, wie der Notarzt den Kopf schüttelte, das Unfallopfer würde vermutlich nicht überleben.
„Bist du verletzt?“ John besah sich die schmutzige Kleidung. Blutspritzer trockneten auf dem Rock.
„Nein und jetzt lassen Sie mich zu ihm. Ich muss etwas von ihm erfahren, bevor es zu spät ist.“ Verzweifelt riss sie sich los und lief in Richtung des Krankenwagens, in den der leblos wirkende Körper gerade hineingehoben wurde. An den ruhigen Bewegungen der Sanitäter konnte man schon erkennen, dass ihm wohl nicht mehr zu helfen war. Er würde zum Sterben und zur Obduktion ins Kantonsspital gebracht.
„Es tut mir leid …“, flüsterte John. Sie schrie auf und sackte ohnmächtig zusammen.
Kurze Zeit später im Krankenzimmer des Kantonsspitals fragte sein ehemaliger Kollege ihn: „Weißt du, wer sie ist?“ Bruno Bär sah zu der noch immer Bewusstlosen in dem hellen Krankenzimmer. John schüttelte den Kopf.
„Nein! Hatte sie keine Papiere bei sich?“
„Sonst hätte ich nicht gefragt. Das Unfallopfer hatte auch keinen Ausweis dabei. Wir überprüfen seine und auch ihre Fingerabdrücke, mal sehen, was dabei herauskommt.