Aus dem Off. Ruliac Ulterior. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruliac Ulterior
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752904697
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bin ich gut drauf. Nein, natürlich nicht den ganzen Tag, aber immerhin jetzt gerade. Ich machte die bewusste Erfahrung, dass mir Sozialkontakte auch gut tun können. Das Treffen der Selbsthilfegruppe hat wieder ein oder zwei Knoten in mir gelöst. Diese Gruppe beginnt mittlerweile, so etwas wie ein Therapeutenersatz für mich zu werden.

      Am Wochenende wird mich Selina besuchen. Sie ist Tirolerin und wir haben uns in einem Borderline-Forum kennengelernt. Wir hatten schon länger vor, uns irgendwann persönlich zu begegnen, und jetzt ist es endlich so weit. Ich beginne, mich den Menschen wieder zu öffnen.

      Ja, heute bin ich gut drauf.

      Donnerstag, 21. Dezember 2006, 10 Uhr 24

      Das Wochenende mit Selina war sehr schön. Wir verbrachten eine gute Zeit miteinander. Wir aßen gut und rauchten auch einige Joints, aber vor allem redeten wir viel. Ich glaube, da habe ich nach langer Zeit endlich mal wieder eine richtige Freundschaft geschlossen. Schade, dass Selina in Tirol und damit so weit weg wohnt. Aber ich hoffe, ihr möglichst bald einen Gegenbesuch abstatten zu können. Auf dieses nächste Treffen freue ich mich bereits jetzt.

      Weniger erfreulich als das vergangene Wochenende ist allerdings das Ergebnis der MRT-Untersuchungen meiner Kniegelenke, welche gestern und heute durchgeführt wurden. Den nächsten Termin bei meinem Orthopäden habe ich zwar erst morgen. Doch den großen, an ihn adressierten Briefumschlag, der mir im MRT-Labor ausgehändigt wurde, öffnete ich natürlich sofort.

      In beiden Kniegelenken ist der Knorpel hinter der Kniescheibe geschädigt, auf der Rückseite der rechten Kniescheibe habe ich zudem ein ausgedehntes Knochenmarködem. Vorgestern machte ich mir noch Gedanken darüber, ob und wann ich wieder mit dem Kampfsport weitermachen kann. Heute hoffe ich nur noch, wenigstens um eine Operation herumzukommen. Ich darf darüber gar nicht mehr weiter nachdenken.

      Donnerstag, 22. Dezember 2006, 14 Uhr 13

       «Sie haben verschlissene Kniescheiben, auf beiden Seiten. Da müssen wir was dran machen», lautete heute die Diagnose des Orthopäden. Ich konnte gerade noch fragen, ob er damit eine Operation meine. Nein, aber ich würde Spritzen zwischen Kniescheibe und Kniegelenk gesetzt bekommen. Da er selbst altersbedingt in den Ruhestand gehen werde, empfahl er mir für diese Behandlungen einen seiner Kollegen.

      Und damit beendete der Arzt das Gespräch, das im Stehen stattgefunden hatte. Ehe ich mich versah, fand ich mich auf dem Gehweg vor seiner Praxis wieder. Wie gut, dass ich mir vorher den MRT-Befund selbst angesehen hatte. Auf diese Weise hatte ich wenigstens von dem Knochenmarködem und dem Riss im Knorpel erfahren. In dem Fernsehinterview hatte der Mann menschlicher auf mich gewirkt. Aber vielleicht ist er einfach nur fotogen.

      Frohe Weihnachten! Spritzen zwischen Kniescheibe und Kniegelenk? Damit hat die ganze Scheiße doch damals überhaupt erst angefangen! Ein ganzes Jahr lang wurde mir ein Mal wöchentlich eine Injektionsnadel in das rechte Kniegelenk geschoben, die letzten Monate sogar zusätzlich noch ins linke. Diese quälende Behandlung fand erst ein Ende, als auf einer Röntgenaufnahme etwas am Oberschenkelknochen entdeckt wurde, das man als Zyste bezeichnete.

      Im Universitätsklinikum wurde mir diese Zyste operativ entfernt und das Bein kam in Gips. Weder die Ärzte noch meine Eltern hatten es für angebracht gehalten, mich darüber zu informieren, dass ein Verdacht auf Knochenkrebs bestand. Am Morgen nach der Operation öffnete der Herr Professor kurz die Türe meines Krankenzimmers und informierte mich vom Türrahmen aus mit einem einzigen, dürren Satz darüber, dass ich mein Bein behalten könne. Meine Freude über diese Nachricht hielt sich in Grenzen.

      Als der Gips entfernt worden war, war das Bein aufgrund der Muskelrückbildung nur noch so dick wie mein Oberarm. Es war ein Anblick, auf den mich niemand vorbereitet hatte. Doch auch das Ärzteteam bekam etwas zu sehen, mit dem es nicht gerechnet hatte. Das Mittel, das mir so lange Zeit gespritzt worden war, hatte nämlich das ursprüngliche Röntgenbild verschleiert. Die neue Aufnahme, die nach Abnahme des Gipses erstellt wurde, offenbarte einen Haarrissbruch just an jener Stelle, an der sich der mutmaßliche Tumor befunden hatte. Dieser Haarrissbruch hatte sich einfach nur entzündet. Eine Operation wäre gar nicht notwendig gewesen. Ich saß neben meinem Vater, als dieser den Herrn Professor in dessen Büro fragte, ob eine solche Fehldiagnose nicht zu verhindern gewesen sei. Die Antwort lautete, dass wir uns darüber freuen könnten, dass das bevorstehende Weihnachtsfest nicht durch eine Krebsdiagnose getrübt werde.

      Rehamaßnahmen wegen der atrophierten Oberschenkelmuskulatur waren irgendwie kein Thema. Es wurde mir der Eindruck vermittelt, dass sich das von selbst wieder in Ordnung bringen würde. Ich glaubte das und humpelte von dannen. Ich war halt erst vierzehn Jahre alt.

      Die Spritzen hatte ich übrigens gesetzt bekommen, weil ich wegen leichter Beschwerden am rechten Knie zu einem Orthopäden gegangen war und dieser eine lokal begrenzte Ernährungsstörung am Knorpel ausgemacht hatte. Die Fragen, ob sich der Patient vielleicht nur zu wenig bewegte oder ob sich eine solche Ernährungsstörung bei einem Vierzehnjährigen mit der Zeit auswachsen würde, hatten bei der Wahl der Behandlungsmethode offenbar keine Rolle gespielt. Von meinem Vater erfuhr ich später, dass dieser Arzt unter dem Spitznamen «Spritzen-Müller» bekannt war. Nach der Aussage einer Physiotherapeutin, der ich diese Geschichte viel später erzählte, habe sich der gute Mann an meinen Knien wohl «einen Porsche zusammengespritzt». Manchmal wird eben aus einem hippokratischen Eid irgendwann ein hypothetischer.

      Und nun kündigte ein anderer Quacksalber allen Ernstes an, mir Spritzen in die Kniegelenke zu jagen! Warum hatte ich dem überhaupt meine ganze Vorgeschichte erzählt? Als ich die Praxis verließ, war ich regelrecht benommen. Keine Operation - gut, das war etwas, an dem ich mich erst einmal festhalten konnte. Und: Hier gehst Du nicht mehr hin, auch zu keinem anderen Orthopäden. Ich lasse mich nicht noch weiter kaputt machen durch diese verdammten Metzger!

      Sofort fuhr ich zu meinem Hausarzt. Den MRT-Befund samt Bildern hatte ich ja noch bei mir. Wir sprachen eine Viertelstunde lang miteinander, und das sogar im Sitzen. Dieser Mann ist einer der ganz wenigen Lichtblicke, was meine Erfahrungen mit Ärzten angeht. Nicht ohne Grund bin ich bereits so viele Jahre lang bei ihm als Patient.

      Er bestätigte mich in meiner ablehnenden Haltung bezüglich weiterer Spritzen. Die Verschlimmerung meiner Symptome in der letzten Zeit sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass ich im Fitness-Studio an den Beinmaschinen trainierte. Das habe zu einem zu hohen Druck auf Knorpel und Kniescheiben geführt. Sein Rat lautete, mich vom Beintraining an Maschinen zu verabschieden.

      Oh, mein Gott! Seit jeher habe ich versucht, meinem vorgeschädigten rechten Knie ein stützendes Muskelkorsett zu verpassen - mit den Maschinen in den Fitness-Studios! Doch in Wirklichkeit habe ich ihm dadurch wohl erst recht den Rest gegeben, und offenbar sogar auch dem linken! All die Jahre hindurch habe ich mir selbst die Knie zermahlen! Und die Ursache für die aktuelle Verschlimmerung meiner Symptome ist mein Wiedereinstieg in das Studio- und damit auch in das Gerätetraining gewesen! Die verschissenen Beinmaschinen, nie wieder werde ich diese Mistdinger anrühren! Und was ich jetzt definitiv nicht noch einmal brauche, das sind irgendwelche verfluchten Spritzen!

      Aber nun kümmere ich mich um die Tüte mit Gummibärchen, die ich mir eben geholt habe. Zu denen riet mir nämlich mein Hausarzt, wegen der darin enthaltenen Gelatine. Und was einem der Arzt sagt, das soll man ja immer beherzigen. Außerdem brauche ich gerade ein wenig Trost. Vielleicht sogar ein bisschen mehr.

      Montag, 25. Dezember 2006, 20 Uhr 30

       Auf dem Weg zum Studiotraining flog ich mit dem Fahrrad auf einer heimtückischen hölzernen Bachbrücke auf die Fresse. Unglaublich! Diese verdammte Brücke war glatt wie Seife! Ich landete mit voller Wucht auf der rechten Hüfte. Die wird gerade dick. Dieser Winter wird der letzte sein, in dem ich mir das mit dem Rad noch antue. Zum Training fuhr ich aber trotz allem noch. Vernunft sieht wohl anders aus, mangelnde Einsatzbereitschaft allerdings auch.

      Sonntag, 31. Dezember 2006, 17 Uhr 21

      Wenn ich mir vergegenwärtige, wie meine Pläne am letzten Jahreswechsel