Aus dem Off. Ruliac Ulterior. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruliac Ulterior
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752904697
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Und vom Kampfsport werde ich mich vielleicht endgültig verabschieden müssen. Daran, dass ich möglicherweise sogar mit dem Lauftraining aufhören muss, will ich überhaupt nicht denken. Ich muss so schnell wie möglich Gewissheit über die Diagnose und meine Prognose haben. In meinem jetzigen Zustand kann ich jedenfalls ganz sicher an keinem Kampftraining teilnehmen. Und auch bezüglich des Laufens habe ich eigentlich kein gutes Gefühl mehr. Ich werde es wohl auf ein Mal pro Woche reduzieren. Aber ich werde so lange weiter laufen gehen, wie mir das möglich ist. Ich brauche es einfach.

      Zu guter Letzt möchte ich nun aber doch noch einem Gedanken Ausdruck verleihen, der mich bei dem Verfassen dieses Textes ständig begleitet hat wie ein alter Freund, der einen nie im Stich lässt. Er besteht aus einem einzigen Wort: Scheiße!

      Montag, 30. Oktober 2006, 21 Uhr 45

       Entgegen meiner Vorsätze brachte ich es nicht über mich, mich beim Laufen auf ein einziges Mal pro Woche zu beschränken. Gestern ging es einfach nicht mehr anders. So bin ich nun also in diesem Monat neun Mal jeweils eine halbe Stunde lang gelaufen.

      Nach den ersten zehn Minuten sind dabei meine Kniegelenkspalten immer schmerzfrei, so auch gestern. Und auch nach dem Laufen fühlte sich das Knie für den Rest des Tags etwas besser an als davor. Aber heute musste ich mich dann wieder bei jedem Aufstehen aus einer sitzenden Position heraus mit den Armen auf etwas abstützen. Und auch das Treppensteigen bereitet mir erneut stärkere Schmerzen. Das macht mir Angst. Ich erlebe doch ständig, was aus mir wird an den Tagen ohne Sport. Das ist wie eine völlig andere Person.

      Es ist noch nicht lange her, dass ich nur in den Supermarkt gehen konnte, wenn ich davor Sport getrieben hatte. Der Sport stabilisiert mich, macht mir den Kopf frei, lässt mich mich selbst spüren. Organisatorisch ist ein Lauftraining vor jedem Einkauf auf Dauer aber schwer umzusetzen. Doch irgendwann stellte ich fest, dass regelmäßiger Sport meine psychische Verfassung nicht nur kurz- sondern auch mittelfristig verbessert, wenn auch auf einem geringeren Niveau.

      Gerade begann ich, endlich Hoffnung zu schöpfen, auf diese Weise an meiner Situation zwar langsam aber dennoch nachhaltig etwas verändern zu können. Und jetzt spielt plötzlich dieser Körper nicht mehr mit!

      Freitag, 3. November 2006, 21 Uhr 56

       Als ich heute mein Rad aus dem Keller holte, um damit ins Fitness-Studio zu fahren, traf ich eine Nachbarin und geriet mir ihr in ein Gespräch. Sie ist Medizinstudentin und bestätigte meine Vermutung, dass das Fahrradfahren positive Auswirkungen auf meine Knie haben könne. Das Gelenk werde durch diese Bewegung besonders gut geschmiert. Sie meinte außerdem, sie könne meine Abneigung gegen Ärzte verstehen, nach meinem jahrzehntelangen Gehumpel. Die Orthopäden seien alles «Pappnasen», die «nur röntgen und irgendwelche tollen Operationen am Rücken machen» könnten. Ich vermochte ihr nicht zu widersprechen.

      Samstag, 11. November 2006, 21 Uhr 35

      Ich bin dabei, mich auf die naheliegenden Ziele zu konzentrieren. Bevor ich nicht meinen Körper in Ordnung gebracht habe, brauche ich mir kaum etwas anderes vorzunehmen. Meine Knieprobleme sind der größte Knackpunkt. Ich werde weiterhin mit dem Fahrrad dagegen anfahren müssen. Doch das mit der Kniescheibe ist nur die eine Sache. Was mit dem Schmerz an den Gelenkspalten los ist, das weiß ich ja noch gar nicht. Jedenfalls kann es nicht falsch sein, mein überflüssiges Körperfett gänzlich loszuwerden. Jedes Kilo, das nicht auf den Gelenken lastet, kann mir nur helfen.

      Wenn ich im Herbst des nächsten Jahres auf Wohnungssuche gehe, dann will ich fit, gesund und schuldenfrei sein. Ich hoffe, dass das Schicksal mitspielt. Und ich will ihm dabei nicht durch Missachtung meiner Grenzen einerseits oder mangelnde Disziplin andererseits im Wege stehen.

      Verdammt, ich brauche wieder meine Sparringskämpfe! Da habe ich endlich meine Affinität zum Kampfsport als einen wesentlichen Persönlichkeitsanteil von mir freigeschaufelt, und jetzt kann ich das nicht verwirklichen!

      Sonntag, 19. November 2006, 14 Uhr 25

       Mein Hausarzt meinte letztens, es könne sein, dass mein aus Kniescheibe und Knorpel bestehendes System sich einfach an die neuen Gegebenheiten anpassen müsse, die ich durch mein regelmäßiges und gezieltes Training geschaffen habe. Er hat mir da etwas von Druckpunkten und Verlagerungen erzählt, ganz kriege ich das nicht mehr zusammen. Jedenfalls könne das mein Orthopäde erkennen, wenn er das MRT auswerten wird.

      Radfahren ist auch weiterhin angesagt. Der Knorpel hinter der Kniescheibe wird nicht über Blutbahnen mit Nährstoffen versorgt, sondern durch die Gelenkflüssigkeit. Allerdings ist dazu Bewegung erforderlich, am besten eine mit möglichst wenig Druck.

      Inzwischen bin ich guter Dinge, dass sich das alles letztlich als ein temporäres Problem erweisen wird. Wenn jemand mich fragt, ob ich ein Optimist oder ein Pessimist sei, dann gebe ich gerne zu Antwort, dass ich ein Zweckoptimist bin. Ein Zweckoptimist ist ein Pessimist, der den nützlichen Einfluss einer positiven Geisteshaltung erkannt hat.

      Montag, 20. November 2006, 15 Uhr 47

      Gestern Abend erfuhr ich, dass Michaela, eine Teilnehmerin unserer Selbsthilfegruppe, sich vor eineinhalb Wochen mit einer Überdosis Tabletten umgebracht hat. Ein weiteres Opfer, gefallen im Kampf gegen das Borderline-Syndrom.

      Ganz so, als ob uns unser Schicksal noch einen kleinen Abschied zugebilligt hätte, traf ich Michaela eine gute Woche vorher zufällig im Bus, wo wir uns kurz miteinander unterhielten. Auf mich machte sie dabei keinen besonders deprimierten Eindruck. Entweder sie verbarg ihre Absichten tief in sich oder aber irgendwann später geschah etwas, das sie seelisch aus der Bahn warf.

      Ich bin ziemlich benommen durch diese Geschichte. Das ist der dritte Selbstmord, den ich seit meinem Eintritt in die Psychoszene mitbekommen habe, und dieser Einschlag war am nahesten von allen. Mir schwirren ständig die Bilder von unseren Gruppentreffen und von dem Gespräch im Bus durch den Kopf. Außerdem unterlaufen mir mehr Rechtschreibfehler als sonst und ich bin etwas tollpatschig bei alltäglichen Handlungen. Irgendwie stehe ich ein bisschen neben mir.

      Als ich gestern Abend die Balkontüre zum Lüften öffnete und den unangenehm kalten Wind im Gesicht spürte, da dachte ich, dass ich so etwas immerhin noch fühlen kann, Michaela nicht mehr. Ich lebe, wenn auch immer noch nicht wirklich. Machs gut, Michaela! Ich wünsche Dir für Dein nächstes Leben bessere Bedingungen als die, die Dir in diesem vergönnt waren!

      Montag, 27. November 2006, 13 Uhr 52

      Meine Schlafträume verändern sich derzeit wieder. Nach einer Zeit der Träume mit Riesenspinnen, gefolgt von Opfer- und Fluchtträumen kam ich in eine Phase in der ich Leute bis zur Heiserkeit anschrie oder mich endlos mit ihnen prügelte. Nun scheint eine Periode des Ausgleichs angebrochen zu sein.

      In dem Traum der heutigen Nacht schlug mir in einer Kneipe ein äußerst unangenehmer junger Mann mit der Faust ins Gesicht, worauf ich ihm eine zurückgab. Mein Gegner befand sich innerhalb einer Gruppe weiterer, offensichtlich gewaltbereiter junger Männer, unter denen nun eine gewisse Unruhe entstand. Ich sagte meinem Kontrahenten, dass er mich geschlagen habe und ich ihn, dass wir nun quitt seien. Er stimmte mir zu, womit die Angelegenheit schließlich erledigt war. Ähnliches geschieht in meinen Nachtträumen neuerdings öfter.

      Vor kurzem hatte ich einen Traum, der sich in einem höchst eigenartigen Urlaubscamp in Afrika abspielte, gelegen an einem Ort, den ich mir zuvor auf einer an einer Wand hängenden, großen Landkarte ausgesucht hatte. Das Absonderlichste an diesem Camp war der Pool, über dem eine bodenlose Pyramide schwebte, deren unterstes Viertel sich zwar im Wasser befand, ohne jedoch den Grund des Pools zu berühren. Nachdem ich in das Innere der Pyramide hineingetaucht war, sank ich plötzlich hinab, bis ich total schwerelos im Wasser schwebte und mich vollkommen glücklich und aufgehoben fühlte. Vielleicht wäre es einen Versuch Wert, irgendwann einmal nach Afrika zu reisen?

      Mittwoch,