Es musste ein unerfahrenes Tier sein, und sicher war ihm noch kein
Pferdelord mit Nedeams Fähigkeiten begegnet.
Nedeam blickte der heranschnellenden Raubkralle entgegen und fand
sogar noch Zeit, die Anmut ihrer Bewegungen zu bewundern, während er
seinen Bogen in Position brachte. Er wartete, bis die Raubkralle wieder mit
einem langen Satz vorschnellte und sich ihr Leib für einen Moment über den
Boden hob, dann löste er den Pfeil. Und während dieser noch durch die Luft
zischte, legte er schon den zweiten an den Bogen.
Aber er brauchte ihn nicht mehr. Die Raubkralle überschlug sich in vollem
Lauf und prallte schlaff auf den Boden. Der leblose Körper rutschte noch ein
Stück über die Steine und blieb dann liegen. Mit schussbereitem Bogen trat
Nedeam hinter dem Felsen hervor und ging vorsichtig auf das Tier zu. Doch
die Raubkralle war unbestreitbar tot.
Nedeam schnitt seinen Pfeil aus dem Kadaver, denn es war ein guter Pfeil
mit geradem Schaft, glatter Befiederung und einer scharfen Spitze, die von
Guntram, dem Schmied, gefertigt worden war. Dass es ein Jagdpfeil und kein
Kriegspfeil war, erkannte man an der Stellung der Spitze zur Befiederung.
Die Rippen eines Tieres verliefen zumeist senkrecht, und so stand auch die
Spitze eines Jagdpfeils senkrecht auf den Federn, um leichter zwischen den
Rippen hindurchdringen zu können. Die Rippen eines Menschen oder Orks
dagegen verliefen zumeist waagrecht. Es gab auch Pfeile mit kegelförmigen
Spitzen, die für beide Zwecke geeignet waren, aber Nedeam schätzte sie nicht
besonders. Sie waren spitz und dünn und rissen zu kleine Wunden. Der
Getroffene verblutete nicht so rasch, und war der Schuss nicht auf Anhieb
tödlich, konnte das Opfer fliehen oder sogar noch Rache nehmen.
Der junge Pferdelord zückte seinen Dolch und begann den Räuber zu
häuten. Leider war das Fleisch einer Raubkralle nicht besonders schmackhaft,
im Gegensatz zu dem eines Pelzbeißers. Aber ihr weiches, dichtes Fell war
begehrt, und auch wenn diese hier nicht besonders groß war, so würde
Nedeam in Eternas dennoch einen guten Gegenwert dafür erhalten. Als er
fertig war, verscharrte er den Tierkörper, nahm das Fell und legte sich wieder
schlafen. In dieser Nacht würde seine Ruhe wohl nicht noch einmal gestört
werden.
Als der Morgen anbrach, erwachte Nedeam und freute sich darauf, endlich
wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht würde er die Wolltiere eine Weile am
Gehöft grasen lassen, denn er musste das Fell schaben und es von
Fleischresten befreien, sonst würde es verderben. Vielleicht ergab sich auch
die Gelegenheit, eine Weile auf der Bettstatt zu ruhen. Nedeam war sich nicht
sicher, ob er das verantworten konnte, aber als er schließlich das Gehöft
erreichte und beim Betreten der Schlafkammer seine Bettstatt erblickte, war
jeder Zweifel verflogen.
Man nannte es noch immer Balwins Gehöft, obwohl Balwin vor mehr als
drei Jahreswenden von den Orks getötet worden war und der Hof nun
Meowyn gehörte. Doch da Meowyn als Heilerin in Eternas lebte, führte ihr
Sohn Nedeam nun den Hof mitsamt der Wolltierzucht, und Dorkemunt, der
kleinwüchsige Pferdelord, half ihm bei Kräften an des Vaters Stelle.
Dorkemunt hatten Nedeam kennengelernt, als der damals Zwölfjährige allein
durch die Nordmark der Pferdelords streifte. Nedeam war auf der Suche nach
dem Beritt des Pferdefürsten Garodem gewesen, doch hatte er nur Tod und
Verwüstung vorgefunden, die marodierende Orks über das Land brachten.
Mit Glück und Instinkt hatte der Junge überlebt und war dann auf Dorkemunt
getroffen. Zusammen mit den Pferdelords des Königs waren sie gerade
rechtzeitig in die Hochmark zurückgekehrt, um den Fall von Eternas zu
verhindern. Nedeam war die ungewöhnliche Ehre zuteilgeworden, im
knabenhaften Alter von zwölf Jahren in die Riege der Pferdelords
aufgenommen zu werden. Eigentlich war dies erst möglich, wenn man das
sechzehnte Jahr erreicht hatte.
Dorkemunt war froh, dass die letzten Jahre in Frieden vergangen waren. Er
kannte Nedeams Temperament, und der kleine Bursche hätte sich kaum
aufhalten lassen, wenn der Pferdefürst erneut die Losung gegeben hätte.
Selbst jetzt fand Dorkemunt den Jungen noch viel zu zierlich, um als Kämpfer
in die Schlacht zu ziehen. Es fehlte ihm gewiss nicht an Körpergröße,
schließlich war auch Dorkemunt selbst nicht gerade ein Hüne. Und auch an
Mut mangelte es Nedeam nicht, doch fehlte ihm die Kraft, eine ordentliche
Streitaxt oder die Stoßlanze zu führen.
Dorkemunt hatte sich mit widerstreitenden Gefühlen zu Balwins Gehöft
aufgemacht, denn was er für Nedeam vorsah, würde er in langwierigen
Diskussionen verteidigen müssen. Nicht unbedingt gegenüber dem Jungen,
sondern gegenüber Meowyn, Nedeams hübscher Mutter. Ja, Meowyn gefiel
ihm über alle Maßen, und wäre ihr Herz nicht so verschlossen gewesen, so
hätte Dorkemunt ihr wohl nach altem Brauch das Pferd gesattelt und um ihre
Hand angehalten. Sicher, er war reich an Jahren und Meowyn um so viele
Monde jünger, doch dafür war er auch reich an Erfahrung und galt als guter
Pferdelord.
Der kleinwüchsige Reiter trabte auf den Eingang der Schlucht zu, die in
eines jener vielen kleinen Gebirgstäler mündete, welche sich zahlreich in die
Landschaft der Hochmark kerbten. Zwei Tage dauerte für gewöhnlich die
Reise von der Stadt zu Balwins Hof. Auf seinem Ritt war Dorkemunt an
einzelnen Gehöften und einem Weiler vorbeigekommen. Schließlich sah er
den Hof vor sich liegen und nickte zufrieden, als er den Rauch eines
Dungfeuers aus dem Schornstein quellen sah. Nedeam war im Haus, und ihn
zu überzeugen würde die leichtere Aufgabe sein.
Unbewusst suchte der kleinwüchsige Pferdelord die Umgebung nach
einem Anzeichen von Gefahr ab. Von irgendwoher aus dem Tal ertönte das