vermutete, dass der Räuber ein relativ junges Tier war. Vielleicht ein
Männchen, das reif genug war, sein eigenes Rudel zu gründen, und sich nun
auf der Suche nach Nahrung und einem paarungswilligen Weibchen befand.
Nedeam war vor Jahren sogar einmal einem großen Pelzbeißer begegnet
und hatte diese Begegnung nur mit Glück überlebt. Es wäre ihm fast lieber
gewesen, wenn der Räuber eines dieser Tiere gewesen wäre, denn die Spur
ihrer schweren Leiber ließ sich leichter verfolgen. Außerdem jagten
Pelzbeißer nur tagsüber und schliefen in der Nacht. Den Raubkrallen
hingegen war die Tageszeit gleichgültig. Wann immer sie Beute fanden,
belauerten sie diese und töteten sie.
Nedeam hatte das gerissene Lamm ausgenommen. Das Fleisch war zart
und gut, und aus dem kleinen Fell ließ sich Bekleidung fertigen. Schließlich
wurde in den Marken der Pferdelords nichts verschwendet.
Im Moment war Nedeam allein auf dem Gehöft. Seine Mutter Meowyn
und sein väterlicher Freund und Mentor Dorkemunt weilten in Eternas, viele
Tausendlängen entfernt. So trug Nedeam die ganze Verantwortung für die
kleine Herde. Er hatte sie zusammengehalten, so gut er es vermochte, aber die
einigermaßen flachen Hänge luden die Wolltiere förmlich dazu ein, sich auf
ihrer begierigen Suche nach gutem Futter zu verstreuen. Nedeam hatte sie
unermüdlich wieder zusammengetrieben, aber schließlich hatte er resigniert
geseufzt und die sturen Tiere ihrem eigenen Willen überlassen. Nur die
kühnsten Ausreißer trieb er nun noch zu den anderen zurück. Es war wohl
besser, sich auf die natürlichen Instinkte der Tiere zu verlassen. Wolltiere waren
Herdentiere und drängten sich bei Gefahr zusammen. Sie hatten gute Nasen
und witterten ein Raubtier auf große Entfernung, wenn der Wind günstig
stand und den alarmierenden Geruch zu ihnen herantrug. Auch Nedeams
Pferd hatte eine gute Nase und ergänzte auf diese Weise den geschärften
Augensinn des Jungen, den er für den Fall brauchte, dass sich der Räuber
gegen den Wind anschlich.
Jetzt neigte sich der Tag, und die Schatten wurden länger, ohne dass
Nedeam die Fährte der Raubkralle entdeckt hätte. Vielleicht war sie längst
weitergestreift, doch Nedeam spürte, dass sie noch in der Nähe war und
hungrig darauf lauerte, erneut zuzuschlagen.
Aber irgendwann würde Nedeam schlafen müssen. Er konnte seine Augen
nicht die ganze Nacht offen halten, denn seit Tagen war er allein und hatte
nicht mehr richtig geschlafen. Auch diese Nacht würde er nicht in seiner
Bettstatt verbringen, sondern auf dem harten Boden der Hochmark.
Nedeam prüfte die Windrichtung und suchte nach einer günstigen Stelle
für seinen Lagerplatz. Zwischen zwei niedrigen Felsen, die etwas Schutz vor
Wind und Sicht boten, wurde er fündig. Jeder gute Pferdelord wählte sein
Nachtlager mit Bedacht, denn man wollte sich nicht im Schlaf von einem
Räuber überraschen lassen, mochte er nun zwei oder mehr Beine haben.
Während Nedeam schlief, würde sein Pferd für ihn Wache halten.
Nedeam schob die größeren Steine zur Seite, ebnete den Boden, so gut es
ging, und breitete seine Decke darüber. Dann nahm er Wasserflasche und
Provianttasche von seinem Pferd und klopfte diesem anerkennend auf die
Flanke. Der Hengst schnaubte leise und trabte dann zum Wasserloch hinüber,
um seinen Durst zu stillen und selber ein wenig von dem Gras zu zupfen. Viel
hatten die Wolltiere nicht übrig gelassen. Aber auch in Nedeams Provianttasche
fand sich kaum noch etwas. Morgen würde er die Wolltiere in ein anderes Tal
treiben müssen und bei der Gelegenheit auf dem Gehöft seine Vorräte
auffüllen.
Er aß etwas Brot und Wolltierkäse, dazu ein paar Trockenfrüchte, dann legte
er Bogen und Pfeilköcher griffbereit neben sich und hüllte sich in den langen
grünen Umhang. Er war so müde, dass er fast augenblicklich einschlief.
Nedeam erwachte, als der Hengst leise schnaubte und mit dem Kopf sanft
an seine Füße stieß. Der junge Pferdelord war schlagartig wach und spürte die
Gefahr, die sein Pferd zuerst bemerkt hatte. Nedeam sah zu seinem Reittier,
dessen Kopf mit geblähten Nüstern in eine bestimmte Richtung wies. Der
große braune Hengst mit dem lang gezogenen weißen Fleck auf der Stirn war
gut ausgebildet und kampferfahren. Nedeam vertraute auf Stirnflecks Instinkt.
Er nahm den Bogen, zog drei Pfeile aus dem Köcher und erhob sich lautlos.
Vorsichtig spähte er über einen der Felsen hinweg in die Richtung, in die
Stirnfleck witterte.
Die Nacht war nicht ganz sternenklar. Immer wieder schoben sich Wolken
vor Mond und Sterne, und die Schatten gaukelten Bewegung vor, wo keine
war. Nedeams Blick suchte Talboden und Hänge nach den lang gestreckten,
schlanken Umrissen einer Raubkralle ab, welche sich beim Anschleichen an
die Beute üblicherweise tief zu Boden duckte.
Dann entdeckte er den Räuber. Es war tatsächlich ein junges Tier, nicht
besonders groß, sogar kleiner als ein ausgewachsenes Wolltier, aber dennoch
war es tödlich. Die Raubkralle stand starr auf dem Hang, und nur die
Bewegungen ihres Kopfes und das nervöse Zucken des langen Schwanzes
verrieten, dass Leben in dem Körper war.
Nedeam war ein guter Bogenschütze, einer der besten, wie man sagte.
Aber das wechselhafte Licht und die Entfernung ließen keinen sicheren
Schuss zu. Er entschloss sich zu warten, bis das Raubtier näher kam, dann
bemerkte er, wie die Raubkralle zu ihm hinübersah, und blickte rasch zur
Seite. Niemals einem Ziel in die Augen sehen, hatte Dorkemunt ihm
eingeschärft. Es könnte spüren, dass man es ansah, die Gefahr erahnen und zu
fliehen versuchen. Oder es könnte angreifen.
Genau das tat die Raubkralle nun. Sie griff an, was Nedeam überraschte,
denn