Der Wachhabende lachte auf, wandte sich ins Innere des Turms und rief
etwas nach unten. Im nächsten Moment öffneten sich die beiden massiven
Eisenflügel des Tores. Die Lautlosigkeit, mit der dies geschah, ließ darauf
schließen, wie sehr die Anlage gepflegt wurde. Auch wenn man keinen Feind
fürchtete, so hielten die Soldaten des Reiches der weißen Bäume stets ihre
Augen offen und die Waffen bereit. Nie wieder würden sie sich, wie vor
wenigen Jahren geschehen, von der Streitmacht der Orks überraschen lassen.
Die Truppen Alnoas hatten damals schwer gelitten, und es würde noch
lange dauern, bis sie ihre alte Stärke wieder erreicht hatten. Aber nicht aus
diesem Grund war der Turm nur mit wenigen Männern besetzt. Vielmehr
diente der Wachtposten als Glied der Signalfeuerkette. Auf seiner obersten
Plattform lag das geschichtete Brennmaterial bereit, um eine drohende Gefahr
mit lodernden Flammen kundzutun.
Lomorwin und seine Gruppe betraten das Innere des Gebäudes. Das
Erdgeschoss war derart geräumig, dass es einer großen Halle glich. An den
Wänden waren die zahlreichen Öffnungen für die Bogenschützen zu
erkennen, durch die schwach das Tageslicht hereinfiel. Die Stockwerke waren
durch eine einzelne schmale Treppe verbunden, die für einen Angreifer wohl
nur schwer zu erstürmen war.
Die Gardisten des Königreichs trugen im Gegensatz zu den Pferdelords
eine einheitliche Rüstung aus silbergrauem Metall, die Unterleib und
Oberkörper vollständig bedeckte. Der Brustpanzer lief nach vorn keilförmig
zu und zeigte das eingeprägte Wappen des Königreichs. Die seltsam spitze
Form erschwerte es entgegenkommenden Geschossen, die Panzer zu
durchdringen. Die Helme bedeckten den Kopf bis zum Nacken, ließen jedoch
die Ohren frei. Nach oben hin liefen sie zu Spitzen aus, in denen Federn
steckten. Deren Anzahl und Farbe gaben Auskunft über Rang und
Waffengattung ihrer Träger.
So kennzeichnete eine einzelne Feder den einfachen Gardisten, zwei
Federn waren dem Rang eines Hauptmanns vorbehalten, ein
Legionskommandeur führte drei, und ein Oberbefehlshaber schmückte seinen
Helm mit vier Federn. Waren sie blau, so handelte es sich um Schwertmänner
und Spießträger, die rote Farbe war den Bogenschützen vorbehalten, während
Gelb die Reiterei des Königreichs repräsentierte.
Von der Turmbesatzung trugen nur vier Männer die volle Rüstung, die
anderen hatten die Panzerung gar nicht erst angelegt, und so konnte man ihre
grauen Beinkleider und Wämse sehen. Der Hauptmann trug zu seinem Wams
als Zeichen seiner Würde lediglich den Helm mit den beiden schwingenden
Federn.
»Ich bin erfreut, Euch wiederzusehen, guter Herr Lomorwin«, sagte der
Hauptmann wohlgelaunt und reichte dem Händler die Hand. In Alnoa war
dies eine Geste der freundlichen Begrüßung, denn es wurde die Schwerthand
gereicht, um zu zeigen, dass man keine Waffe hielt und friedliche Absichten
hegte. »Ihr seid auf dem Heimweg in die Nordmark?«
»Sogar noch weiter hinauf«, erwiderte Lomorwin und reichte einem
Soldaten die Zügel seines Pferdes. »Mein Ziel ist die Hochmark des
Pferdefürsten Garodem.«
»Garodem? Ja, von dem habe ich gehört. Er soll sich vor Jahren recht
wacker geschlagen haben.« Der Hauptmann musterte Lomorwins Lasttiere.
»Ihr wollt bei uns nur eine kurze Rast einlegen?«
»Und Ihr wollt sicherlich einen kurzen Blick auf mein bescheidenes
Angebot werfen, nicht wahr, guter Herr Hauptmann?« Lomorwin lachte
freundlich. »Dafür reicht die Zeit immer.«
Lomorwin handelte ausschließlich mit Waren, die in den Ländern seiner
Kunden nicht hergestellt oder zumindest sehr selten waren. Die Bewohner des
Königreichs Alnoa interessierten sich besonders für die Lederarbeiten der
Pferdelords, obwohl sie sich selbst auf die feinsten Arbeiten verstanden. Doch
war Hornvieh im Land der weißen Bäume selten, und so waren die Waren aus
den Marken des Pferdevolkes wegen der günstigen Preise begehrt. Im Land
der Pferdelords fanden hingegen die feinen Stoffe und Schmuckstücke aus
Alneris reißenden Absatz. Die Stoffe waren weich und fließend und nicht so
grob gewebt wie das Wolltuch der Pferdelords. Vor allem die Frauen wussten
dieses feine Tuch zu schätzen.
Nach kurzer Rast und schnellem Handel zog Lomorwins kleine Karawane
weiter, denn der Händler wollte bis zum Abend noch die alte Handelsstraße
erreichen, die ihn entlang der Südmark in die Königsmark führen würde.
Dann sollte es weiter in nordwestlicher Richtung gehen, am Westgebirge
entlang, an dem die alte Bergfestung des Pferdevolkes lag, und schließlich
hinauf zum Fluss Eisen und seinen Furten. Es war ein weiter Weg, der viele
Tage in Anspruch nehmen würde.
Als Lomorwin und seine Gruppe endlich die Furten des Eisen erreichten,
hatte sich das Warenangebot bereits deutlich reduziert. Zwei der Pferde waren
inzwischen ganz ohne Last, und der Treiber Helipator aus Alneris nahm das
Angebot gerne an, auf einem der Tiere zu reiten.
»Der hat sich das Abenteuer wohl anders vorgestellt«, grunzte Ildorenim
missbilligend. »Vor allem für seine Füße. Ah, diese verweichten
Stadtbewohner.«
»Sieh es ihm nach, guter Freund«, erwiderte Lomorwin lachend. »Erst
nach der Reise werden wir wissen, wie weit ihn seine Füße tragen können.
Zudem genieße auch ich den Ritt.«
»Ihr seid auch der Herr, und es steht Euch wohl an«, brummte Ildorenim.
»Das fehlte noch, dass der Herr zu Fuß geht und der Treiber reitet.«
Zwei Tage zuvor hatten sie die Hauptstadt des Königs der Pferdelords
verlassen und vor einem Tag die Grenze zur Reitermark überschritten.