Zu Hause ist anderswo. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847696247
Скачать книгу
Hilde hat sich ausnahmsweise darum gekümmert, denn als Vierzehnjährige hätte ich bei der tschechischen Botschaft keine Chance gehabt, das Problem allein zu lösen. Von dort hat sie ein Duplikat der Geburtsurkunde besorgt. Erst ab diesem Zeitpunkt wusste ich eigentlich, wie ich in Wirklichkeit heiße und wer meine leiblichen Eltern waren.“

      Martinas Gesichtszüge verrieten noch immer keinerlei Regung.

      Klaus wirkte betroffen. Im Grunde waren ihm solche dramatischen Geschichten zuwider, aber nun ließ sich die Lawine wohl sowieso nicht mehr aufhalten. Deshalb fragte er beherzt, ob sie dann einfach an ihre leibliche Mutter geschrieben habe.

      „Ach, ja“, seufzte Martina. Das habe sie zwei Jahre später getan, als sie das Gefühl gehabt habe, es sei nicht mehr zu vermeiden gewesen.

      „Auf der einen Seite wollte ich eigentlich nichts mit dieser Frau zu tun haben, auf der anderen hatte ich sie ja schon einmal kennengelernt, ohne dass ich es wusste. Als ich später erfahren habe, dass es sich bei diesem unverhofften Besuch um meine leibliche Mutter gehandelt hatte, konnte ich sie auch nicht mehr so richtig vergessen.“

      Und sie erzählte ihm in knappen Zügen von der ersten Begegnung mit ihrer leiblichen Mutter, die sich damals, offenbar um ihre Tochter nicht zu erschrecken, als Frau Ackermann ausgegeben hatte. Geschrieben habe sie sich später allerdings nur mit ihrer Schwester Christiane. Von der wiederum habe sie aber auch die Adressen von den anderen Geschwistern erhalten. Dann sei eines Tages auch noch ihr Bruder Kurt aufgetaucht. Er habe ihr zum ersten Mal jene Geschichte erzählt, von der Ermordung ihres Vaters, von der Verzweiflung ihrer Mutter und deren Versuch, sich selbst und ihre Kinder umzubringen.

      Die Worte fielen hastig aus ihr heraus und setzten sich zu Bildern zusammen, allerdings wie im Zeitraffertempo. Nach ein paar Jahren habe sie sich dann aufgemacht mit ihrem ersten Mann und ihrem Sohn. Zur Mutter, nach Thüringen. Aber auch diese zweite Begegnung sei „gründlich danebengegangen“.

      Anfangs, aus dem Munde ihres Bruders, habe Martina das alles nicht so richtig glauben können. Doch ihre Schwester Margot habe jede grausame Einzelheit bestätigt, sie sei schließlich eine glaubwürdige Zeugin, weil sie seinerzeit schon fast zwölf Jahre alt gewesen war. Außerdem habe Martina ihre Schwester an einem Tag nach diesen Ereignissen gefragt, der niemanden zum Scherzen veranlasst. An jenem Tag habe sie ihre Mutter sozusagen zum dritten Mal gesehen, aber dazu habe sie sich erst einen Sarg öffnen lassen müssen. „Angesichts des Todes denkt sich bestimmt niemand solche makabren Geschichten aus ...“ endete Martina abrupt.

      „Mein Gott, nun mal langsam, nicht so hastig!“

      Klaus hatte den Satz gebrüllt. Er war schon drauf und dran gewesen, sich abwehrend die Ohren zuzuhalten, aber dann besann er sich wohl darauf, dass er ein Auto lenkte und ließ die Hände am Steuer.

      Das Gehörte war einfach zu viel für ihn. Was war das nur für eine haarsträubende Geschichte? Nicht alles konnte er in dieser Zeitraffergeschwindigkeit aufnehmen, aber eine Bemerkung war unweigerlich hängen geblieben. Die Hella wollte ihre Kinder und sich selbst umbringen? Mein Gott, wieso denn? Andererseits: angesichts des Vorgefallenen? Als er bedachte, was diese Frau alles mit ansehen musste, gestand er sich ein, dass er in einem Winkel seines Herzens sogar ein gewisses Verständnis für ihren gemeinschaftlichen Selbstmordversuch aufbringen konnte.

      Trotzdem: Das ging ihm alles viel zu hastig, so schnell konnte er so etwas Unglaubliches gar nicht fassen.

      Martina hatte ja auch kaum Luft geholt, hatte immer schneller ihre Worte heruntergerasselt, als befürchte sie, dass ihr Mann wieder sagen könnte: „Hör auf, lass sein, was früher war, interessiert mich nicht!“

      Doch er sagte nichts dergleichen, räusperte sich vielmehr verlegen, weil er sehen konnte, wie sie verletzt schwieg, weil er ihr so heftig ins Wort gefallen war. Einlenkend fragte er deshalb, obwohl sie ja schon eine Menge angedeutet hatte: „Was für ein Rest? War das alles, die Ermordung deines Vaters und das ganze Drum und Dran mit dem Pferd, noch nicht genug?“

      Den Suizidversuch ließ er absichtlich unerwähnt.

      Martina verstand sehr wohl, dass solche anteilnehmenden Fragen für ihn schon eine Art der Entschuldigung bedeuteten und schüttelte leicht den Kopf. Gleich fiel ihr ein, dass er ja ihre Geste vielleicht nicht bemerkt haben könnte. Schließlich rollten sie noch immer in ihrem Mazda auf tschechischen Straßen. Wenn sie sich nicht irrte, hatten sie gerade den Ort Dubi, früher Eichwald, hinter sich gelassen.

      Deshalb beeilte sie sich zu sagen: „Nein, Klaus, das war noch längst nicht alles.“

      Ihre Stimme blieb auffallend ruhig, vielleicht wieder ein wenig zu kühl, sie wollte ihren Mann nicht merken lassen, wie aufgewühlt sie in Wahrheit war. Sie hatte es von klein auf lernen müssen, sich zu beherrschen, andere nicht mit den eigenen Angelegenheiten lästig zu fallen. Das klang alles recht positiv, aber im Grunde war es nichts als eine fragwürdige Anpassung, die abzulegen sie wohl nicht mehr fähig sein würde. Also: immer Beherrschung zeigen, ja nichts dramatisieren, immer so genau wie möglich an die Fakten halten – und bloß nicht heulen!

      Eine Wolke hatte sich inzwischen vor die Sonne geschoben, es begann leicht zu nieseln. Die feinen Tröpfchen spritzten gegen die Windschutzscheibe. Durch den Fahrtwind sah es aus, als ob sie auf der Scheibe nach oben fließen und die toten Insekten abwaschen wollten.

      Und wie ist es mit der Schuld, die wir mit uns herumtragen, ausgesprochen oder nicht? Kein Regen würde sie je abwaschen können.

      „Soll ich das Radio wieder anmachen? Vielleicht kommen ja irgendwo die Beatles oder Elvis?“

      Ein altbewährtes Ablenkungsmanöver.

      Doch das vertraute Schmunzeln bei den Namen seiner Lieblingsinterpreten blieb dieses Mal aus.

      „Nein, aber du kannst mal die Dachluke schließen, ich habe schon jede Menge Regentropfen abbekommen. Du nicht?“

      Natürlich hatte er die paar Spritzer auf ihren nackten Armen auch längst entdeckt.

      „Und dann kannst du weitererzählen.“

       Wie bitte? Doch nicht etwa alles ganz ausführlich? Was dachte er sich dabei?

      Martina kurbelte so lange, bis das Schiebedach fest geschlossen war. Dabei hatte sie sich ein wenig die Rippen verrenkt, deshalb klappte sie ihre Rückenlehne nach hinten und streckte sich lang aus. Als alles wieder auf dem rechten Fleck zu sein schien, stellte sie die Lehne wieder auf.

      „Also, du bist sicher, dass du auch den Rest der Geschichte hören willst?“, fragte sie mit einem ihrer schnellen, sich vergewissernden Seitenblicke. Klaus nickte nur, scheinbar schon wieder völlig ungerührt und murmelte: „Na klar, was denkst du denn, jetzt, wo du schon mal angefangen hast ...“

      7. Hilfe, wir wollen noch nicht sterben

      1945. Nachdem das entsetzliche Gespann mit der Leiche des Vaters im Schlepptau um die Ecke gebogen war, wurde Margot bewusst, wie bedrückend sie diese plötzlich eingetretene Stille ringsumher empfand.

      Die eben noch gleißende Sonne war hinter den schnell aufgezogenen Wolken verschwunden, aber sie gab den größten von ihnen noch einen hellen Saum, was die Szenerie nicht ganz und gar trostlos erscheinen ließ. Die rot befleckte Wäsche flatterte heftig im Wind.

      Doch gleich darauf drangen Geräusche in die Stille ein, die sie vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Im Nachbareingang spielte jemand Gitarre, ein Kind weinte, verschiedene Hunde bellten, nebenan gackerte, Beifall heischend, ein Huhn. Auch die Vögel zwitscherten in diesem Durcheinander von Geräuschen, als sei überhaupt nichts von Bedeutung geschehen.

      Noch vor ein paar Minuten hatte das Mädchen geglaubt, alles Lebendige, ob Menschen, Tiere, Pflanzen oder Bäume, müsste ab sofort den Atem anhalten.

      Margot blinzelte, schaute sich im Hof um, reckte und streckte sich, als wolle sie etwas abschütteln, für das sie noch keine Worte fand. Der Hof lag ruhig da, von dem entsetzlichen Gespann war absolut nichts mehr zu sehen oder zu hören. Jemand hatte die Kirchenglocken in Gang gesetzt,