Zu Hause ist anderswo. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847696247
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nicht, nach konkreteren Worten für das Unaussprechliche zu suchen, vielleicht doch nicht in Wirklichkeit geschehen? War sie etwa krank geworden? Hatte sie Fieber mit Wahnvorstellungen, wie sie das im vorigen Winter schon einmal erlebt hatte? Margot begann zu weinen und schämte sich gleichzeitig ihrer Tränen, wischte sie energisch mit dem Handrücken fort, denn die Stiefmutter hatte immer gesagt, dass so große Mädchen wie sie überhaupt nicht mehr weinen dürften. Margot gelang es immer besser, sich daran zu halten, denn: Heulen bringt nichts. Das wusste sie längst. Hella hatte diese Erfahrung bestimmt auch schon vor langer Zeit gemacht, denn Margot hatte sie tatsächlich noch niemals weinen gesehen.

      Wo waren sie denn überhaupt alle? Weder von der Mutter noch den Geschwistern war irgendwo etwas zu sehen.

      Margot versuchte nun, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie fühlte sich zwar unsicher auf den Beinen, kam aber dennoch Schritt für Schritt halbwegs mit Erfolg voran, worüber sie selbst staunte. Sie hatte schon befürchtet, gleich nach dem ersten Schritt umzufallen, aber nichts dergleichen war geschehen.

      So näherte sie sich mit staksigen Schritten, langsam, aber unaufhaltsam, dem Wohnhaus. Wären die dunklen Flecke an der Giebelwand neben dem Efeu nicht gewesen, hätte man es für ein vollkommen friedliches Haus halten können. Es war hellgrün gestrichen, die Fensterläden aus Holz hatten ein sattes, dunkleres Grün erhalten.

      Sie wohnten erst seit ein paar Jahren hier, waren ganz stolz auf ihre neue Wohnung in der kleinen Reihenhaussiedlung, die für kinderreiche Familien errichtet worden war. Sie freuten sich über die sonnigen Räume, die sauber geflieste Küche mit dem weißen Herd und natürlich auch über die Toilette mit Wasserspülung. Die Kinder störte es wenig, wenn die Leute in Bruch auf sie herabschauten, weil die Reihenhaussiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft zum sogenannten Russland erbaut worden war. Und in Russland, so wusste jeder in der Stadt, da wohnte der Abschaum. So richtig konnte sie sich damals noch nicht vorstellen, was damit gemeint war, deshalb war sie einmal zum Haus der Großmutter gegangen, um sie zu fragen. Aber die hatte das Mädchen lediglich an ihre große, warme Brust gedrückt und beschwichtigend gemeint: „Mach dir keine Gedanken um so etwas.“

      Margot hatte gehorsam sein und sich mit dem Stapeln von Holzscheiten ablenken wollen, aber das half auch nur für eine kleine Weile. Dann war es wieder da gewesen, das Wort: Abschaum. Sie vermutete, dass es etwas Schlechtes sein müsse, eigentlich konnte man das schon am verächtlichen Klang der Stimmen hören, mit dem jenes Wort stets ausgesprochen wurde.

      Sie musste der Sache einfach auf den Grund gehen.

      „Großmutter, meinen die etwa uns damit – und – was ist das denn eigentlich richtig – Abschaum?“

      In ihrem Eifer bohrte sie mit spitzen Fingern ein Loch in den Strumpf, was ihr einen tadelnden Blick eintrug.

      Seufzend entschloss sich die Großmutter nun doch noch zu einer richtigen Antwort.

      „Mädel, du kannst nicht nur Löcher in die Strümpfe bohren, sondern sie einem auch in den Bauch fragen! Abschaum! Nun ja, das sind eben keine guten Leute, sie lügen, betrügen, stehlen und halten ihre Wohnungen nicht sauber. Aber ihr, deine Eltern und ihr Kinder – ihr seid kein Abschaum, ihr seid ehrlich, fleißig und ordentlich!“

      Mit dieser Erklärung gab sich Margot zufrieden.

      Ehrlich, fleißig und ordentlich. Und wenn Margot so darüber nachdachte, so stimmte das auch. Tatsächlich. Der Vater war bei den Leuten gern gesehen, weil er die schönsten Öfen setzen konnte. Die Stiefmutter sorgte für Sauberkeit im Haus und stets auch für eine volle Speisekammer. Das musste sogar ihre Freundin Helena eingestehen, die manchmal mitgekommen war, um die Schätze in dem kleinen Raum, dessen gefüllte Regale vom Fußboden bis zur Decke reichten, anzuschauen und auch schon mal mit dem Finger begierig in die Kakaobüchse zu fahren.

      Margot scheuchte ihre jetzt weiß Gott unwichtigen Gedanken an Abschaum und Kakaobüchse beiseite und schaute sich weiter suchend um. Die Fensterscheiben waren klar, dahinter verbargen schneeweiße Tüllgardinen die Sicht in das Innere der Stuben. Doch Margot wusste ja, dass es auch dort stets aufgeräumt und sauber war, wenn man von den großen Teigfladen absah, die zu dieser Zeit ständig auf den Betten der Eltern auf weißen Tüchern zum Trocknen ausgelegt waren. Doch sie fragte sich gleich darauf, empört über sich selbst, wie sie ausgerechnet jetzt an den Nudelteig denken konnte.

      An einigen Stellen der Giebelwand blätterte seit einiger Zeit die Farbe ab. Margot erinnerte sich plötzlich wieder, dass Vater erst vor ein paar Monaten, als er noch zu Hause gewesen war, gesagt hatte, dass das Holz in diesem Sommer unbedingt einen neuen Anstrich brauche. Vater, der alles Kaputte sofort reparierte. Vater, der die schönsten Öfen von ganz Bruch setzen konnte und bei seiner Arbeit immer fröhlich war. Vater, der in diese Partei gegangen war, um nicht trotz seines Ohrenleidens doch noch in den Krieg zu müssen.

      „Ich bin zwar wegen meiner Mittelohrgeschichte für den Militärdienst untauglich“, hatte er gesagt, „aber man weiß ja nie ...“ Dabei hatte er Margot zugezwinkert.

      Im April hatte es dann geheißen, er müsse „zum Volkssturm“, davor würden ihn weder seine kranken Ohren noch das Parteiabzeichen schützen.

      „Wird nicht lange dauern …"

      Mit diesen Worten wollte er seine Familie trösten und sich selbst wohl auch ein bisschen, denn er hat sich zwar in sein Schicksal ergeben, aber eben auch nicht gern. Daran hatte er keinen Zweifel gelassen. Es dauerte dann auch tatsächlich nur noch knapp vier Wochen, bis der Krieg aus war.

      Nach Kriegsende war er allerdings nur ganze zwei Tage zu Hause gewesen, dann hatten ihn unbekannte Männer abgeholt und mit vielen anderen in so ein Lager gesteckt. Margot hatte, obwohl es ihr verboten war, den Gesprächen der Erwachsenen immer sehr aufmerksam gelauscht. So wusste sie, dass niemand ihnen erklärt hatte, warum ihr Vater verhaftet worden war. Über die Lager selbst – und was dort mit den Gefangenen geschehen ist, sprachen sie dann aber immer so leise, dass Margot nichts mehr verstanden hatte.

      Von dort, also aus dem Lager, musste der Vater heute entwischt sein.

      Er wollte eben immer bei seiner Familie sein, das wussten alle. Margots Herz zog sich bei diesem Gedanken wieder heftig zusammen, irgendetwas Unbekanntes, Unsichtbares drückte nun schmerzhaft auch auf ihren Magen. Dieser ständig anschwellende Druck machte ihr erneut bewusst, dass alles, was sie heute gesehen und gehört hatte, gar kein Albtraum gewesen sein konnte.

      Ihr wurde übel. Dennoch setzte sie mechanisch weiter einen Fuß vor den anderen, kam bald am niedrigen Küchenfenster an. Das war das einzige, dessen Flügel meistens, so auch jetzt, weit offen standen. Die Großmutter hatte ihrer Schwiegertochter unmissverständlich gesagt, dass der Dunst vom Kochen die Wände schnell unansehnlich werden ließe, wenn Hella das Küchenfenster weiter geschlossen hielte. Von Stund an wurde im Hause Riedel sehr gründlich gelüftet. Großmutter war eben auch für Hella eine Respektsperson.

      Als Margot nun stehen blieb und hineinschaute, sah sie plötzlich alle, die sie draußen vergeblich gesucht hatte: Winzling Robert und die kleine Martina im Schlafkorb, Christiane saß auf der Ofenbank, Kurt hockte auf dem Fußboden davor. Mathilde schüttete, lässig an den weißen Küchenofen gelehnt, in aller Seelenruhe Tee aus der braunen Emaillekanne, die wie jeden Tag frisch gefüllt auf dem Herd stand, in einen Becher. Doch Margot spürte, dass an diesem friedlichen Bild irgendetwas falsch war. Etwas stimmt hier nicht, überlegte sie. Aber was?

      Plötzlich entdeckte sie auch die Frau ihres Vaters. Sie war dem Mädchen in jenem Augenblick so fremd, dass sich alles in ihr sträubte, das Wort Mutter oder Stiefmutter auch nur zu denken. Hella stand heftig zitternd, mit aufgelöstem Haar, offenem Mund und ruhelosen Augen am Tisch. Als ihr Blick wie zufällig auf die Wäscheleine und das lange Brotmesser fiel, machte sich eine unerklärliche Entschlossenheit auf ihrem Gesicht breit.

      Nun gab es kein Zurück mehr, die Frau schrie ihren ganzen Schmerz, ihre Verzweiflung hinaus, alle sollten hören, wie sinnlos jetzt dieses bisschen Leben für sie war. Sie alle wären doch sowieso verloren, was sollten sie also noch auf dieser Welt?

      Durch Mathilde ging ein Ruck, alle ihre zur Schau gestellte