Christiane war mit ihren dicken Beinen erstaunlich schnell von der Ofenbank gerutscht, Kurt hatte etwas mehr Mühe, sich vom Fußboden hochzustemmen, nach dem ersten Versuch kippte er auch gleich wieder um, aber er probierte es, angesteckt von der allgemeinen Aufgeregtheit, gleich noch einmal. Diesmal klappte es, so hielt er sich am Stuhlbein fest, wobei er, immer noch heftig schwankend, in lautes Protestgeschrei ausbrach.
Mathilde hatte vor Schreck das weiße Henkeltöpfchen fallen lassen, sodass der Pfefferminztee eine längliche Pfütze auf den Fußboden zeichnete, die aussah wie Amerika.
Der Vater hatte den Kontinent manchmal auf Packpapier gezeichnet und von Columbus und den Indianern erzählt. Ein andermal hatte er kurz erwähnt, dass „die Sozis nach Amerika geflohen“ wären, um „diesem Hitler“ zu entgehen. Aber das hatten die Mädchen damals noch nicht verstanden. Die Angst mancher Erwachsenen vor dem Onkel mit dem Bärtchen über der Lippe war für sie sowieso unbegreiflich. Warum sollte man denn Angst haben vor einem, der doch ihre schöne Siedlung hatte bauen lassen, für Familien mit vielen Kindern, für solche wie sie also? Doch als Margot einmal danach gefragt hatte, war selbst der Vater höchst unwirsch geworden und hatte sie als einen „Naseweis“ bezeichnet.
Die Kinder aus der Küche rannten jetzt los, sie steuerten zielgerichtet auf ihre große Schwester zu. Sie würde alles tun, um ihre Geschwister zu beschützen. Margot konnte es unschwer an ihren Gesichtern ablesen, wie fest sie daran glaubten.
Mathilde, selbst nur ein Jahr jünger, rief ihr noch im Laufen zu: „Hast du mitgekriegt, was die vorhat?“
Mit „die“ war ganz offensichtlich die Stiefmutter gemeint.
Margot hatte natürlich alles mitbekommen, aber am liebsten hätte sie Mathilde an den Kopf geworfen, dass sie ja selbst noch nicht einmal zwölf Jahre alt sei und sich nicht imstande fühle, den Erwartungen der anderen gerecht zu werden. Lasst mich in Ruhe, ich kann euch nicht beschützen, ich bin nicht so stark, wie ihr glaubt, dachte sie verzweifelt. Sie wollte weg, einfach nichts wie weg hier.
„Ta-tante Klara muss helfen“, stotterte sie laut und wusste, dass es so aussah, als wolle sie damit ihre Flucht vor den Jüngeren rechtfertigen. Doch die Scham über ihr Verhalten war ihr nur ganz kurz übers Gesicht geflammt, es war ihr schon im nächsten Moment völlig gleichgültig, was die anderen von ihr hielten. Sie wollte nur so schnell wie möglich alles hinter sich lassen.
Nach ein paar Metern auf der staubigen Straße, neben dem Bach, an dem sie immer spielten, wäre Margot fast mit Klara zusammengestoßen.
Atemlos keuchte das Mädchen.
„Hilfe, sie will uns alle aufhängen – wir wollen doch noch nicht sterben …“
Es war nicht nötig, noch ein weiteres Wort zu verlieren, die Nachbarin verstand sofort, sie hatte ja das makabre Pferdegespann ebenfalls gesehen, und nicht nur das. Voll ohnmächtiger Wut hatte sie hinter der Gardine gestanden und alles verfolgt. Wenn sie sich auch wegen ihrer Passivität schämte, war ihr doch jede Art von Selbstbetrug fremd und sie musste sich rasch eingestehen: Manchmal ist die Angst eben doch viel stärker als die Wut.
Nun überlegte sie aber nicht mehr lange, griff nach Margots Hand, die diese ihr nur widerwillig überließ und lief eilends mit der Kleinen zurück. Dabei schloss sie ihre Hand so fest um die des Mädchens, dass es kein Entrinnen mehr gab.
Mit einem Blick hatte Klara erfasst, dass sich Mathilde, Christiane und Kurt hinter dem Holunderstrauch versteckt hatten. Gut so. Aber was war mit den Kleinen?
Sie zog das Mädchen weiter bis vor die Küche. Margot hatte auf den paar zurückgelegten Metern ihre Fluchtgedanken fallen gelassen, wenn auch schweren Herzens. Als sie atemlos die Küchentür aufstießen, hatte die Mutter gerade die kleine Martina losgelassen, die schrie, denn ihr Kopf steckte in einer Schlinge. Mit einem einzigen riesigen Satz waren Margot und Klara am Tisch, die Nachbarin fing den winzigen Körper in letzter Sekunde auf, bevor das Seil sich straffen konnte.
„Hella, was machst du da!“
Es war Margot, die jetzt über ihren eigenen Schrei erschrak, außerdem hatte sie ihre Stiefmutter wieder beim Vornamen gerufen. Aber diesmal reagierte diese nicht wie sonst, denn bei solchen Gelegenheiten war ihr schon öfter die Hand ausgerutscht.
Eigentlich reagierte sie überhaupt nicht.
Sie wandte sich nur unbeteiligt ab und rückte einen Topf mit weißen Bohnen auf dem Herd beiseite. Als wäre es jetzt das Wichtigste, dass das Mittagessen nicht anbrannte.
„Sie atmet noch“, stieß Klara erleichtert aus, streifte hastig die Schlinge ab und streichelte mit fahrigen und dabei doch so zärtlichen Bewegungen den fast kahlen kleinen Kopf, so, als wäre es ihr eigenes Baby und nicht das von Hella. Doch sie bekam keine Kinder, das hatte Margot schon vor längerer Zeit aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgeschnappt.
Inzwischen hatten sich auch die anderen wieder bis an die offene Küchentür herangewagt. Weiter gingen sie vorsichtshalber nicht. Die drei verstörten Kindergestalten beachtete in diesem Moment sowieso niemand.
Als Klara, jetzt wieder kraftvoll und resolut, sich umdrehte und die Mutter zu fassen bekam, schlug sie unverhofft und mit aller Kraft zu. Auf Hellas Wange wuchs langsam ein roter Abdruck von Klaras Hand. Da erst schien sie zur Besinnung zu kommen und endlich die ungeduldig wiederholte Frage nach ihrem Sohn Robert zu hören. Sie ließ die Topflappen einfach fallen und wies schweigend, nur mit ruckartig vorgerecktem Kinn und zusammengekniffenem Mund in Richtung Babywiege. Die stand rechts neben der Tür zur Schlafstube der Eltern. Klara eilte schnell hinzu, doch der Kleine schien zu schlafen, sie sah die Äderchen durch die dünne Haut der Augenlider schimmern. Ängstlich streckte Klara die Hand aus, aber ihre Befürchtung bestätigte sich nicht. Der kleine Junge lebte noch.
8. Pause am Neuteich
Klaus hatte in Gedanken schnell alles überrechnet. Um ein Haar hätte Martina also nicht überlebt? Wer war diese Nachbarin, die sie aufgefangen hatte? Man musste sie finden! Und was war mit dem kleinen Jungen, dem Robert? Er hatte bis vor einer halben Stunde noch geglaubt, Martina sei das Jüngste der Riedel-Kinder.
Seine Gedanken wirbelten durcheinander, wie er es seit Langem nicht erlebt hatte.
Er bedachte seine Frau mit einem Blick voller Zärtlichkeit. Gleichzeitig war er aber auch fassungslos über das bisher Gehörte. Deshalb blinkte er nun kurz entschlossen und hielt auf einem kleinen Parkplatz an.
Martina hatte also auch noch einen jüngeren Bruder? Wie ging das zu, sie war doch selbst zu der Zeit erst acht Monate gewesen? Fragen über Fragen, die ihn nicht loslassen wollten.
Sie waren inzwischen in Ossek (Ossegg), angekommen. Martina hob die Autokarte auf, während des Erzählens war sie ihr von den Knien gerutscht.
„Komm, wir steigen aus, wir brauchen jetzt unbedingt eine Pause.“
Ihm wurde es immer heißer, fahrig wischte er sich den Schweiß ab. Martina schien wohl niemals zu schwitzen?
Doch sie blieb noch einen Moment sitzen, der frische Luftzug, der beim Öffnen der beiden Türen entstanden war, tat ihr gut.
Klaus war schon ausgestiegen, hatte etwas aus dem Kofferraum genommen und war eine kleine Böschung hinabgeklettert.
Warum sie ihm nur widerwillig folgte, hätte sie nicht zu sagen gewusst.
Schließlich ließ sie sich neben ihm im Gras nieder und betrachtete die Landschaft. Es war ein schönes Fleckchen Erde. Sie breitete die Karte aus und fuhr mit dem Zeigefinger ihre Fahrtroute nach.
„Guck mal, wir sind immer am südlichen Fuß des Erzgebirges entlanggefahren, dann müsste das jetzt Ossek sein, der Teich da drüben also der Neuteich.“